Die Tarnkappe
lachte hämisch.
»Also es stimmt?«, schrie Simon. »Sag mir die Wahrheit.«
»Du willst Wahrheit? Es gibt eine Wahrheit. Eine Wahrheit, die man weder sehen noch glauben kann. Sie wird dir nicht schmecken, die Wahrheit. Du willst sie hören?« Simon reagierte nicht. Gregor sprach leise. »Nehmen wir an, die Suche nach der Kappe ist Unsinn. Nehmen wir an, dieser Kuhn von der Société hat recht: Man kann sie nicht suchen, nicht finden, nein, die Kappe wird einem gebracht. Sie wird einem gereicht. Wer«, flüsterte Gregor, »wer, denkst du, wer könnte mir die Kappe gereicht haben, Simon? Wer?«, rief Gregor und packte Simon am Kragen. Simon schloss die Augen und sagte endlich das entscheidende Wort, sagte es eingeschüchtert und fühlte sich ohne Kappe so entsetzlich hilflos, ein Schildkrötenmännchen, kurz davor, den Kampf gegen den Rivalen zu verlieren, in der eisigen Wüste der Wirklichkeit, kurz davor, auf den Rücken geworfen zu werden und einen grauenvollen Tod zu sterben, das langsame Zuendezappeln des Körpers, das qualvolle Aussaugen der Körpersäfte durch die Sonne, die so heiß ist, dass sie sich eiskalt anfühlt, die Sonne, die den Körper zum Schmelzen bringt und nichts übrig lässt als den leeren Panzer, Simon holte Luft und sagte: »Carsten?«
Gregor ließ ihn los. Er strich sich übers Jackett. Erst jetzt fiel Simon auf, wie elegant Gregor gekleidet war im Vergleich zu ihrer letzten Begegnung. Einen Anzug trug er, Krawatte, Krawattennadel. Simon dachte, wenn mir nichts anderes mehr bleibt, werde ich ihm die Krawattennadel ins Auge stechen.
»Wer sonst«, sagte Gregor.
»Und wo, wo, wo steckt er?«
»Er ist hier«, sagte Gregor. »Oben. Im Haus. Ich habe das ganze obere Geschoss, das gesamte zweite Stockwerk habe ich ihm zur Verfügung gestellt. Nachdem seine Mutter gestorben ist. Sie war die einzige, die er noch hatte. Sie ist jetzt zwei Jahre tot. Du glaubst mir nicht? Los, gehen wir hoch.«
19
M it jedem Schritt nach oben ging Simon einen Schritt nach unten, in den Raum der Erinnerung, den er für so lange Zeit mit dunklen Tüchern verhängt hatte. Sein Kindheitshaus, die Eltern schliefen, halb zwölf in der Nacht, aber was heißt Kindheitshaus, er war vierzehn Jahre alt, trat an die Garderobe, nahm den Lodenmantel seines Vaters vom Haken, der ihm bis fast zu den Füßen reichte, drückte den Hut des Vaters in die Stirn, öffnete die Haustür und schloss sie so sacht, dass keiner was merkte. Er pfiff. E-Gitarre. Mundharmonika. Fühlte sich wie Charles Bronson in Spiel mir das Lied vom Tod. Was Simon damals elektrisiert hatte, war vor allem die Musik gewesen, Edda Dell’Orsos Stimme, das Pfeifen, die Mundharmonika, die E-Gitarre, die Maultrommel. Bei Morricone wurde alles zu Musik, schon in den frühen Leone-Filmen: Peitschenhiebe, Ambossschläge, Rülpser, Glockengeläut, Kreischen. Als Sergio Leone den Komponisten Ennio Morricone aufsuchte, um ihn zu bitten, die Musik zu Für eine Handvoll Dollar zu schreiben, erkannten sie sich wieder, gemeinsam waren sie in die dritte Klasse der Grundschule gegangen, und Morricone komponierte fortan zu jedem Leone-Film die Musik. Das ging so: Leone erzählte ihm die Geschichte, noch gab es kein Drehbuch, er beschrieb die Charaktere und Stimmungen, Morricone hörte zu, machte Notizen, kramte in seinem Fundus der bereits komponierten Stücke, die von anderen Filmemachern abgelehnt worden waren, komponierte aber auch für jeden Leone-Film ein Dutzend Motive neu, und gemeinsam wählten sie aus, welches Stück für welche Szene passen könnte. Entscheidend ist: Die Musik wird aufgenommen, ehe überhaupt die erste Klappe fällt. Am Set stehen riesige Lautsprecher. Die Schauspieler hören beim Drehen dieselbe Musik, die später auch im Kino zu hören sein wird. Sie bewegen sich zur Musik. Im Duell am Schluss hören die Schauspieler das Mundharmonikaflattern und die Explosion der E-Gitarre und verziehen zu genau diesen Klängen die Mundwinkel, kneifen die Augen zusammen, Bronsons Schlitzaugen, Fondas stahlblaue Augen, man fühlt beim Zusehen die Stimmigkeit. Überhaupt: Henry Fonda. Der sollte zum ersten Mal in seinem Leben den Schurken spielen, der klassische Fall eines cross-castings : Bisher hatte er nur die Guten gespielt, Präsidenten, Helden, Retter. Er kam ans Set, trug einen Schnurrbart und schwarze Kontaktlinsen. Leone verkniff sich jede Bemerkung, drehte zunächst aber keine Szene mit Fonda, entfernte nur jeden Tag eine dieser selbstgemachten
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