Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Zurückgebliebene nahm seinen Lauschposten wieder ein. Sein Atem ging gleichmäßig und flach. Nur keine Geräusche. Die Kunst des Spitzelns wurde in diesem Konvent von früh an geübt. Das kleinste Vergehen hatte als Sünde angezeigt zu werden. Ein Stottern beim Gebet, ein versehentliches Anfassen der heiligen Gerätschaften galten als Sünde, die beim Jüngsten Gericht aufgerechnet würden.
Aleander war Meister dieser Disziplin. Er spürte jeden bis in seine Nacktheit auf. Bislang hatte niemand es gewagt, ihn selbst auszuspionieren. Doch Bischof Tavera hatte nach dem Gespräch über Fadrique vor einer Woche ein hübsches Sümmchen in die Taschen der beiden Mönche fließen lassen. Begleitet von dem Versprechen, sie für die Positionen von Abt und Prior vorzuschlagen, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf Aleander lenken würden.
Aleander wusste nichts von alledem, er schlief und träumte. Er war wieder in der Hundsgasse, in Paris, im Kolleg Montaigue, auch »das Essigkolleg« genannt. Die Schulglocke läutet. Mit verlaustem Kopf nimmt Aleander, ein sechszehnjähriger, dürrer Bettelstudent am Katzentisch des Speisesaals Platz. Vorne thronen die wohlhabenden Studenten an reich gedeckten Tafeln. Der Duft von Aaalpastete, Froschschenkeln, Kapaunen in Milch und Honig weht zum Tisch der Stipendiaten herüber. Sie sitzen vor einem Fetzen Hammelfett und einem halben Becher Ziegenmilch. Um die elende Mahlzeit rasch zu beenden, kippen sie die Milch über den Speck, brocken schimmelndes Brot hinein. Nur Aleander nicht. Er trennt – wie er es bei seiner Mutter gesehen hat – stets Fleisch von Milch.
Ein Mitschüler bemerkt es. Er schreit auf. »Das Schwein isst koscher! Dieses Ferkel, dieser judaisierende Fotzenhut ...«
In Aleanders Traum folgt die Bestrafung, so wie sie sich von da an täglich wiederholte. Alle Insassen des Kollegs strömen in die Folterkammer, um das Fest seiner Misshandlung zu genießen. Die Magister haben Ruten in der Hand mit Eisendornen so groß wie Hagelkörner. Sie stellen sich in zwei Reihen auf. Aleander muss nackt hindurchlaufen. Die Hiebe der Rutenmeister zerschneiden seine magere Brust bis aufs Blut. So oft, so lange, bis die Striemen sich für immer in seinem Fleisch eingeschrieben haben. Keiner der Schulhenker verhindert den Nachschlag, den ihm seine Kameraden später im Dunkel eines Toreingangs servieren. Einige halten ihn fest. Ein Adelssohn aus Sevilla, minderbegabt als Schüler, aber unter den Schlägern der Erste, tritt mit terpentinduftenden Stiefeln auf ihn ein. Zuletzt springt er mit beiden Füßen auf Aleanders linke Wade. Der Knochen bricht, splittert bis ins Fußgelenk, ist nicht mehr zu retten, wächst schief zusammen, muss wieder gebrochen und verkürzt werden. Wochen dauert dieses Martyrium. Aleander kehrt als Krüppel in sein Pariser Kolleg zurück. Erst da sind seine Kommilitonen zufrieden.
Dann ist alles still und Aleander in Santiago. Bei Padre Fadrique, der von der unermesslichen Liebe Gottes spricht, lehrt, predigt und nur Augen für Gabriel hat. Den kecken Jüngling mit den glänzenden Locken und dem losen Mund.
»Es gibt keinen Gott! Ich bin Gott«, kreischt es.
Schweißnass richtete Aleander sich auf seinem Strohsack auf. Sein eigenes Geschrei hatte ihn geweckt. Nach Luft ringend hinkte der Dominikaner zur Tür, riss sie auf und sah in der Morgendämmerung einen Mönch, der ein Wachstäfelchen und einen Griffel in seiner Kutte verschwinden ließ. Aleanders Gesicht glättete sich schlagartig, er lächelte. Die Maske des Gutmütigen war seine gefährlichste.
»Der Herr sei mit dir, Bruder Franco.«
»Und mit dir, Bruder Aleander«, antwortete der Angesprochene vorsichtig.
»Du bist früh auf dem Posten.«
»Ich wanderte nach der Laudes im Kreuzgang umher, weil mir Gedanken zu einer Predigt kamen.«
»Das ist lobenswert, Frater Franco. So viel Ehrgeiz muss belohnt werden. Ich bestimme dich hiermit zum Bewacher meines neuesten Mündels im Konvent der Reuerinnen. Lass sie keine Minute aus den Augen.«
»Eine Frau? Ich halte mich lieber von diesen Sünderinnen fern!« Aleander runzelte die Stirn. Täuschte er sich, oder lag eine spöttische Anspielung im Blick des Mannes?
»Es ist ein Kind. Das Mädchen heißt Lunetta und ist vom Teufel besessen. Du solltest es mit einem Exorzismus und täglichen Messbesuchen in der Kathedrale von Santiago versuchen. Jeden Mittag, hörst du?«
Der Bruder neigte kurz den Kopf.
»Aber nimm dich in Acht! Wer sich mit der Ketzerei
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