Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Himmel, als die Negrona zum Leben erwachte. »Aufgestanden. Gott gebe uns gute Tage und gute Fahrt. Aufgestanden«, weckte eine quäkende Männerstimme die Schiffsjungen, Matrosen und Passagiere.
Starr vom Schlaf feierte die Besatzung eine kurze Messe. Während die Seeleute danach ihr Frühstück aus Hartkäse, Zwiebeln und Zwieback einnahmen, sangen die Kölner Pilger ihr Abschiedslied: »An dich allein, Herr, glauben wir, behüt uns vor des Teufels List, der uns allzeit entgegen ist.«
Kaum hatte eine leichte Brise ihr Amen übers Meer geweht, als die Pfeife des Maats schrillte. Matrosen steckten die Spaken in das Gangspill und begannen den Anker einzuholen. Die Taurollen kreischten in den Blöcken wie Seevögel. Langsam stiegen die bleichen Leinwandmassen der Segel hoch, am Mast wurden ein spanisches Banner und die Fahne der Santiagopilger gehisst.
Beiboote wurden ins Wasser gefiert. Ruderknechte nahmen ihre Position an den Riemen ein, um die Negrona in die Strömung zu schleppen. Der Ruderpatron brüllte Kommandos. Im Takt der Ruderschläge löste sich die Negrona träge vom Kai. An Bord machten Matrosen das Langruder klar, um durch die Scheide aufs Meer zu lavieren. Nach einer Stunde Fahrt erreichte die Negrona die breite Mündung.
Das Schiff verfiel auf den Wellen in einen stampfenden Tanz. Der Navigator brüllte Befehle durch einen Sprechtrichter. Es folgten das flitzende Geräusch nackter Füße auf Holz, das Schlagen und Rollen von Tauen, das Knattern von Segeln, in die knallend der Wind hineinfuhr. Wie ein bockendes Pferd, das seinen Reiter abzuwerfen wünscht, nahm die Negrona Kurs auf Seeland und Englands Kanal.
Zwei Tage später wusste Sidonia, was Zimenes mit dem »entsetzlichen Leiden«, das sie in seiner Bugkajüte erwarten würde, gemeint hatte. Mit den Folgen sinnlicher Liebe hatte es nichts zu tun.
Eingesperrt in das schwüle Gelass seiner Kabuse war ihr so elend, dass sie auf der Stelle tot sein wollte. Das Schlingern und Schwanken des Schiffes drehte ihr alle Eingeweide um, ihr Kopf schmerzte, und jede Bewegung machte sie schwindeln.
Ihr bester Freund war ein Holzbottich, über den sie sich in regelmäßigen Abständen beugte, um ihren Mageninhalt auszuspucken. Viel blieb nicht mehr, sie hatte außer Schiffszwieback und Wasser seit Beginn der Reise nichts zu sich genommen. Erschöpft sank sie auf die Leintücher zurück, mit denen Zimenes das Kojenbett bespannt hatte, und verfluchte das Meer und seine Unendlichkeit. Sie bereute, dass sie Zimenes beim Ablegen des Schiffes aus der Kabuse verwiesen hatte. Immerhin war er Arzt.
»Such dir deine Hängematte, ich brauche deine Hilfe nicht«, hatte sie ihn angefahren.
»Bist du dir sicher?«
»Ganz sicher.«
»Gut, hier hast du Zwieback und Wasser. Das wird reichen.« Mit diesen Worten war er verschwunden, und sie hatte seine übliche Kälte und die karge Mahlzeit verflucht.
Jetzt wusste sie, dass selbst der Zwieback zu viel war. Wieder krängte das Schiff und ließ sie gegen die Bordwand rollen, um sich gleichzeitig in einer Bugwelle zu heben. Das Meer ließ seine Muskeln spielen. Es war, als höben die sich aufrichtenden Wellenberge die Negrona auf ihre Schultern, um sie sich gegenseitig zuzuwerfen. Sidonia tastete nach dem Bottich. Sie sehnte sich nach Luft und konnte nur ahnen, dass draußen Dunkelheit herrschte. Vor Stunden, so schien es ihr, hatten die Seeleute ihr Salve Regina, das Abendgebet, gesungen. Draußen ertönte der Schlag einer Glocke. Sidonia nahm an, dass mit dieser Glocke die Zeit gemessen wurde. Kaum war sie verklungen, als sich die Tür zur Kabuse öffnete. Zimenes schlüpfte hinein, in der Hand trug er eine Blendlaterne.
»Nun? Wie ist es dir ergangen?«
Sidonia richtete sich auf und stöhnte.
Gabriel Zimenes schmunzelte. »Ja, die Seekrankheit ist ein Übel, das keinen Unterschied zwischen König und Bettelmann macht. Hier, kau das.«
Er reichte ihr die Stücke einer Wurzel. Sidonia schnupperte daran. »Ingwer?«
»Es beruhigt den Magen, klärt den Kopf und bringt dein Blut wieder zum Kreisen.«
Sidonia schob sich ein Stück in den Mund. Die süße Schärfe bekam ihr.
»Ein gewisser Nostradamus, den ich während meiner Studienjahre in Paris traf, empfiehlt auch Liebenden den Genuss von Ingwerkonfitüre, damit der Mann seine natürliche Pflicht erfülle.«
Sidonia runzelte die Stirn, kaute aber unverdrossen weiter.
Zimenes öffnete an der Stirnseite der Kabine eine Holzluke. Seeluft drang ein. Sidonia atmete
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