Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
getäuscht! Wie feige war der Mann, der einst seine Gedanken geformt und seine jugendliche Bewunderung genossen hatte.
Zornig betrachtete er Sidonia. In einem Punkt hatte dieses Kind Recht: Wer in dieser Welt ein Herz besaß, war ein Narr. Und wie ihr war auch ihm das religiöse Gezänk der Zeit zuwider. In gewissem Sinne waren sie sich ähnlich, das hatte er für einen Moment gefühlt. Doch der Unterschied war, dass Sidonia mit Gefühlen spielte, weil sie keine kannte, und er, weil das Gegenteil der Fall war. Dieses Kind weckte längst vergessene Empfindungen in ihm, die nichts als Täuschungen waren. Sie war ein blinder Spiegel, denn ihre Seele war leer, während die seine übervoll und zu alt für Leidenschaften war.
»Ich kann dir nicht helfen, Sidonia«, sagte er schroff.
»Bitte zerschlag nicht meine Hoffnung und die meiner Familie.«
»Warum sollte ich deine Familie retten?«
»Weil du keiner von diesen Ketzern bist, die die Menschen und das Gesetz der Barmherzigkeit verachten, die ...«
Diesmal nutzte ihr flehender Blick nichts.
»Du irrst, Sidonia. Frage Fradrique, falls du ihm je begegnest. Er hält mich für den ärgsten Ketzer von allen, denn ich glaube an die Nichtexistenz Gottes auf Erden!«
Sidonia fuhr zurück, stolperte beinahe über einen Steinpoller: »Du auch«, stieß sie hervor und dachte an den gemarterten Christus in der Schifferkirche. In Gedanken versunken setzte sie sich auf den Poller.
Zimenes starrte ihr widerwillig ins Gesicht. »Nein, Sidonia. Sag mir jetzt nicht, dass du deinen hübschen Kopf mit Sinnfragen quälst! Denken macht Falten. Dem Ritter würde es nicht gefallen, und mich täuschst du damit ebenso wenig wie mit deinen flehenden Blicken.«
Sidonia sprang vom Poller hoch. »Hör auf mich zu verspotten!« Sie wechselte zu dem knappen Geschäftston, den sie aus den Kontoren ihres Vaters kannte.
»Wenn du mir auf ein Schiff hilfst, verrate ich dir, wo Lunetta ist. Das willst du doch wissen. Also: Ich rette meine Familie und du die deine!«
»Ich werde dir nicht verraten, wo das Vermögen des Ritters verborgen ist.«
»Aber ihm wirst du es verraten müssen. Und wenn ich ihn finde und heirate, ist sein Vermögen auch das meine«, erwiderte Sidonia kalt.
»Das ist allein seine Entscheidung.«
»Glaube mir, er wird sich für mich entscheiden. Er muss.«
Zimenes wandte sich ab, ließ seine Augen über den Hafen gleiten, sanft schaukelten die Schiffe im Wasser, der Wind surrte in den Leinen. Endlich zog er seine Handschuhe straff.
»Das Geschäft gilt. Folge mir.«
»Wohin?«
Gabriel deutete mit dem Kopf zu einer Reihe grober Tische. Schiffsschreiber saßen unter freiem Himmel und musterten Seeleute und Schiffsjungen an.
»Ich soll als Seemann an Bord?« Sidonia riss die Augen auf.
»Wohl kaum, oder kannst du Segel reffen und in die Wanten steigen?«
Er fasste ihre Hände und drehte sie um. »Weiß wie Sahne und weich wie Saffian. Die Bedienung eines Taus würde dir die Hände bis aufs Fleisch aufreißen. Folge mir zur Negrona, ich kann dir einen erstklassigen Platz verschaffen.«
»Wie das?«
»Du reist in meiner Kajüte. Als Schiffsarzt habe ich ein Recht auf solche Unterbringung.«
Sidonia lief hinter Gabriel her, der mit ausgreifenden Schritten auf die Galeone zustrebte.
»Aber es könnten die Kölner Pilger um Sebald Rieter an Bord sein und mich erkennen, und da ist auch dieser Stadtsoldat, der mich schon in Köln verfolgt hat.« Und Aleander, doch dessen Namen verschwieg sie vorsichtshalber.
»Du wirst die Reise in meiner Koje verbringen. Die ersten Tage wirst du darunter entsetzlich leiden, aber dann wird sich dein Zustand bessern. Ich kenne Mittel, die die schlimmsten Folgen verhindern.«
Sidonia blieb stehen. »Ich denke nicht daran, das Bett mit dir zu teilen!«
»Ich auch nicht«, erwiderte Zimenes. »Ich ziehe eine Hängematte an Deck vor.«
»Wieso?« Die Frage klang empört, wie Sidonia zu ihrem Ärger feststellte.
Zimenes lachte. »Nimm einfach an, dass mich der verkehrte Amor und ein kräftiger Seemann mehr anziehen als deine Reize, die beträchtlich, aber nicht unwiderstehlich sind.«
Sidonias Herz setzte einen Takt aus.
War dieser Mann nicht nur ein Ketzerfreund, sondern auch ein völlig verdorbener Sünder? Oder scherzte er wieder? Wie sie seine Scherze verabscheute! Wie sie diesen ganzen Mann verabscheute, der mal heiß, mal kalt und ihr am Ende stets überlegen schien!
6
Die Sterne verblassten. Ein Streifen Morgenröte stand am
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