Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Krüge mit Wasser entleerte, den einen in den See, den anderen auf die Erde. Es war ein Bild von Fülle und Überfluss, trostreich wie die Idee vom Jungbrunnen, der Alte in Junge verwandelte. Über der nackten Frau auf der Karte leuchtete ein großer Stern, der von einem Kranz kleinerer Sterne überwölbt war. Sterne! Das musste Hoffnung bedeuten. Sie überflog Mariflores’ Stichworte zu der Karte. Esperanza – ja, das hieß Hoffnung. Weiß Gott, um das zu begreifen, musste man kein Buch schreiben! Das wusste jedes Kind, das die Geschichte von Bethlehem gehört hatte.
Sie entzifferte weitere Stichworte: Nach der Karte vom zersprengten Turm folgt der Stern, und das heißt höhere Einsichten, neue Ziele, Reisen. Auch das war klar, jedes Schiff navigierte mithilfe der Himmelslichter. Weiter unten entdeckte sie die Worte: Schattenseiten des Sterns oder umgekehrt gezogene Karte. Pech , stand daneben, Illusionen, Verkennung der Wirklichkeit, gefährliche Ideen, Ungeduld, Tränen. Guter Rat: Es ist besser, abzuwarten, als voranzuschreiten. Alles kommt zu dem, der warten kann. Enttäuscht ließ Sidonia das Buch sinken. Wenn der Stern Hoffnung und zugleich das Gegenteil bedeuten konnte, worin lag dann der Nutzen dieser Karten, außer, das sie hübsch anzusehen waren? Sie wollte das Buch zuklappen, als ein Briefchen herausfiel. Sie entfaltete es und las.
Santiago de Compostela, April 1526
Meine liebste Lunetta,
ich bete zu Gott, dass dieser Brief dich erreichen wird. Auch wenn ich keinen Weg kenne, ihn an dich zu senden, so glaube ich doch, dass er dich eines Tages erreichen wird! Mein Tod ist nun beschlossene Sache, das Blutgerüst der Inquisition ist gebaut. Bitte verzweifle nicht, denn ich gehe mit erhobenem Haupt meinem Schöpfer entgegen, der mich reich gesegnet hat. Ich durfte lieben. Dich und deinen Vater. Niemand wird mir diese Augenblicke nehmen, sie sind ein Teil der Ewigkeit. Ich bereue weder meine Heirat noch meinen Untergang, nur dass ich dich bei Padre Fadrique zurücklassen musste. Doch nun weiß ich, dass dir damit das Leben gerettet ist. Kehre niemals nach Santiago zurück!
Vertraue auf die Heimkehr deines Vaters! Ich weiß, er wird leben, und er wird dich finden, wo immer du bist.
Ich habe dir nicht viel zu hinterlassen außer diesem Buch und der Hoffnung, dass du dich geliebt weißt auf immer
von deiner Mutter Mariflores Zimenes, Gräfin von Löwenstein
Sidonia schnappte nach Luft. Ihre Gedanken jagten sich in tollen Kreisen. Mariflores war tot? Gestorben im April 1526 durch einen Henker? Verurteilt durch die Inquisition? Waren die frevlerischen Karten daran schuld? Sie schob die Bilder zusammen. Eine neue Gedankenkette reihte sich vor ihr auf. Wenn Mariflores nicht mehr lebte, dann war Adrian von Löwenstein auch nicht mehr verheiratet! Sie rieb sich die Stirn, unsicher darüber, was das für sie bedeutete. Nun: Er war frei! Er konnte sie heiraten! Oder besser: Ihre Heiratsurkunde mochte eine Fälschung sein, aber sie war kein Zeugnis für Bigamie. Wenn sie Adrian fand, konnte sie ihr Schicksal wenden, und sei es, indem sie ihn mit dem Ehedokument unter Druck setzte.
Zimenes, schoss es ihr durch den Kopf, hatte gewusst, dass seine Schwester tot war. Weshalb hatte er trotzdem behauptet, der Ritter könne sie nie zur Frau nehmen, da er verheiratet sei? Warum interessierte diesen Kerl ihre mögliche Ehe? Hing er so sehr an seiner Schwester, dass er den Gedanken einer erneuten Heirat des Ritters nicht ertrug? Nein, dachte sie. Nein, an Mariflores hing er nicht, aber an dem Vermögen, das Adrian von Löwenstein in der Neuen Welt gemacht und das Zimenes gestohlen hatte! Geld, das sie als Ehefrau und sogar als Witwe des Grafen für sich beanspruchen könnte. Ihr Herz setzte mitten in seinem jagenden Takt aus. Was für ein Heuchler dieser Mann war. Redete von unverbrüchlicher Liebe, behauptete, dass Geld nicht wichtig sei, und dachte in Wahrheit nur an das Vermögen, um das ihn eine zweite Heirat des Ritters bringen könnte. Aus diesem Grund behauptete er auch, Löwenstein sei wahrscheinlich tot. Wie Recht sie gehabt hatte, Zimenes zu misstrauen!
Es gab nur Gier in dieser Welt. Nichts als schäbigste Gier – genau wie ihr Vater immer gepredigt hatte: »Geld, mein Kind. Geld, darum dreht sich alles. Ohne Geld bist du ein Nichts auf dieser Welt, und alle deine Träume sind Staub!«
Allerdings ... der Brief von Mariflores las sich anders. Darin war von Gefühl die Rede. Von der Liebe zu einem Mann und
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