Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Matrosen, Jäger und Gejagte, Sünder und Gerechte? Und nun das Kind! Der letzte Spross seiner Familie! Alle Menschen starben gleich jämmerlich, der Tod kannte keine Gerechtigkeit. Der Tod machte ihn zornig. Darum war er vor vielen Jahren Arzt geworden und nicht Priester, wie Padre Fadrique es gewünscht hatte. Dir ist die Macht des Wortes gegeben, Gabriel. Das Wort kommt von Gott und ist mächtiger als das Schwert, darin hat dieser Luther Recht! Verfluchter Fadrique! Für Mariflores hatte er nicht einmal mit Worten gekämpft. Geschichte wurde mit Blut, nicht mit Tinte gemacht. Von Teufeln in Menschengestalt wie Aleander. Für Gott schien es ohne Belang, ob die Welt und die Menschen existierten.
Der Geschützdonner wurde lauter.
Das Bild durchnässter Jammergestalten tauchte in Gabriels Erinnerungen auf. Es waren einfache Matrosen gewesen, muskulöse peones , von den Schafsweiden der kastilischen Hochebene weggeholt, wild entschlossen, ihr Glück in der Neuen Welt zu machen. Sie lagen zerfetzt von Kanonen oder vom gebrochenen Mast zerschmettert auf den Planken der steuerlosen Amorosa, die der Galeotte der Piraten entgegentrieb. Der dunkelrote Decksanstrich, der die Farbe der Blutlachen verbergen sollte, war von glitschiger Nässe überzogen. Die Überlebenden schrien, wie jetzt auf der Negrona die Pilger, dem Wind ihr »Gelobt sei Christus« ins Maul. Der Wind lenkte sie auf ihre Mörder zu. Mit Blick auf die Toten, die über Deck rollten, hatten sie noch an die Gnade des Herrn geglaubt. Ihr comandante hatte sich in blutstarrendem Hemd an der brennenden Reling zum Schiffsschreiber, dem Lotsen und den hohen Passagieren gehangelt. Die beteten nicht, die fluchten. Der Kapitän hatte einen Lederbecher herumgereicht, darin kollerte eine Hand voll Erbsen. Eine hatte er mit dem Kreuz gekennzeichnet. Gabriel erwischte die Kreuzerbse und war seither verpflichtet, eine Pilgerfahrt zum Grab des Jakobus in Santiago zu unternehmen – als Dank für die Errettung.
Dank wofür? Gabriel hatte ein halb unfreiwilliger Sprung in die See vor dem Tod bewahrt. Das Meer hatte ihn an Andalusiens Küste ausgespuckt, zusammen mit einer Truhe des verfluchten Goldes. Als er dann in Santiago von Mariflores’ Tod auf dem Scheiterhaufen erfuhr und davon, dass Fadrique nichts getan hatte, um sie zu retten, wurde sein letztes Vertrauen in die Menschen und Gott erstickt. Nein, er hatte sein Gelübde nicht erfüllt. Er hatte seine müde Seele noch tiefer verschlossen gegen jede Regung, jedes Gefühl. Und seine Gedanken ganz auf die Rache gerichtet. Seine Rache an Aleander.
Wer Rache sucht, muss zwei Gräber schaufeln , ertönte Fadriques Stimme in seinen Gedanken. Gabriel biss die Zähne aufeinander, dass es schmerzte. Er hatte nicht nur Rache gesucht, er hatte sich ebenso geschworen, Lunetta zu retten. Das würde ihm nun unmöglich sein. Zimenes knirschte mit den Zähnen. Dann riss er die Augen auf und schrie in den Himmel: »Herr, erhöre mich! Willst du mich strafen? Tue es, aber lass sie leben. Ich bereue! Hörst du, ich bereue!«
Ein Bimmeln der Schiffsglocke war die Antwort, ein Windstoß läutete sie, kein Matrose. Als sie verklang, ließ das Sausen des Sturms nach, so als wolle er Zimenes Gehör verschaffen.
Die Pilger öffneten staunend die Mäuler, Matrosen rissen sich die roten Wollmützen vom Schädel und schauten halb ehrfürchtig, halb ängstlich zu dem Bekenner am Mast. »Un milagro« , flüsterten einige.
Ein Wunder? Zimenes starrte erbost in den finsteren Himmel. Wie leichtgläubig die Menschen waren, wie verführbar und wie unklar ihre Bindung an den Glauben. Eben wollten sie noch Lunetta über Bord werfen, jetzt verehrten sie ihn als Wunderbringer. Ein Fluch lag ihm auf den Lippen, doch aus den Tiefen seiner Erinnerung stieg ein Psalm in ihm hoch. De Profundis. Als Novize in Fadriques Kloster hatte er diesen Psalm geliebt wie keinen zweiten. Widerwillig formten seine Lippen die Worte. Kraftvoll klang seine Stimme über Deck. Die Stimme eines Predigerschülers: »De profundis clamavi ad te, Domine ...«
Einige Pilger fielen mit ein. Die Matrosen glotzten.
An die Betenden gewandt, fuhr Zimenes in deutscher Sprache fort:
»Aus der Tiefe, Herr, habe ich zu dir gerufen:
Herr, höre meine Stimme!
Wende dein Ohr mir zu,
Achte auf mein lautes Flehen!
Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten,
Herr, wer könnte bestehen?«
»Wer hat diesem Erzketzer gestattet zu beten?« Schrill klang die Stimme Aleanders dazwischen. Er
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