Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
ist ein Mann von Ehre. Er hält sich an die Gesetze der christlichen Seefahrt, die gegenseitigen Beistand vorschreiben.«
»Verflucht«, schrie Sebald Rieter, »dieser Narr wird es doch nicht auf einen Kampf anlegen?«
»Nun, er dreht den Bug in Richtung der Verfolger, und die Kanonen werden klargemacht.«
Plötzlich blitzte im Grau des Meeres, dort wo die Karacke segelte, Feuer auf, verlosch, flackerte wieder auf, verlosch wieder. Bewegung und Gemurmel ging durch die Reihen der Pilger. Alle sahen nach vorn zum Bug. Aus dem rundlichen Bauch der alten Karacke qualmte dicker Rauch hervor. Sie schien getroffen und fiel immer weiter zurück.
Entsetzt sanken die Pilger auf die Knie, kramten nach ihren mit grünen Berylls verzierten Kreuzen, die Schutz vor den Gefahren der Seefahrt versprachen. Verzweifelt hielten sie die Kreuze in den Wind. Schiffsjungen ließen ihre Pflichten im Stich und gesellten sich zu den Betenden. »¡Sálvanos! ¡Ave Maria! ¡Sálvanos!«
Sebald Rieter fluchte wieder. »Wir sind friedliche Pilger, wir wollen nicht in Kämpfe verwickelt werden.«
»Frieden bedeutet nicht die Abwesenheit von Kämpfen, sondern die Anwesenheit von Gott, guter Mann. Wo bleibt dein Vertrauen in den Allmächtigen?«, spottete Zimenes.
»Ich habe den ganzen Tag gebetet, während du Verbrecher geschlafen hast!«
»Das ist meine Form des Gottvertrauens, außerdem sind mir – wie du siehst – die Hände gebunden.«
»Du bist ein Mörder! Der Tod ist dir sicher. Aber wir wollen nicht sterben. Schon gar nicht, wenn es eine Fluchtmöglichkeit gibt. Die Negrona ist ein schnelles Schiff.«
»Und die Karacke ist es nicht«, erwiderte Zimenes. »Es wäre ein Verbrechen, sie im Stich zu lassen.«
»Es wird dunkel, wir haben gute Gelegenheit zu entkommen, wenn der Kommandant alle Segel setzen lässt.«
Zimenes hob die Brauen: »Heißt es nicht beim heiligen Jakobus: Meine Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Nächstenliebe ist eine Frage unserer Taten, nicht unserer Worte!«
»Und das sagt ausgerechnet ein Mörder!« Sebald Rieter wandte sich an seine Reisegefährten. »Wir müssen jemanden finden, der den Kapitän zur Einsicht bringt. Es ist nicht gottgefällig, hunderte Menschen sterben zu lassen, wenn die Hälfte gerettet werden kann. Wir haben siebzig Dukaten gezahlt. Siebzig!«
Seine Gefährten stimmten zu – bis auf eine Frau. Zaghaft trat sie vor. »Und wenn dieser Mörder Recht hat? Liebe erfordert Taten, nicht Worte. Wir hätten das kleine Mädchen in Antwerpen nicht im Stich lassen dürfen«, greinte sie. »Du, Sebald Rieter, hast ein Versprechen gebrochen. Vielleicht will Gott uns dafür strafen.«
Sebald Rieter drehte sich unwirsch um: »Das Kind ist doch an Bord! Und du warst die Erste, die sich gegen das Mädchen gewandt hat.«
»Weil der Mönch sagte, es sei ein Hexenkind«, verteidigte sich die Pilgerin.
»Genau«, entgegnete der Braumeister, »und er will es läutern. Wer weiß, ob diese Teufelsbrut nicht für all das hier verantwortlich ist.«
»Du glaubst, diese Lunetta hat den Sturm auf uns gezogen?«
»Es würde mich nicht wundern, sie war ein Schützling dieses Juden Siebenschön.«
»Ein Jude übergab dir das Kind? Dann hol den Mönch! Er muss den Teufel austreiben.«
»Lunetta ist hier?« Zimenes’ Stimme fuhr scharf wie ein Windstoß zwischen sie. Niemand beachtete ihn. Das Donnern von Kanonen klang übers Meer.
»Hol den Mönch!«, schrie die Pilgerin, »hol den Dominikaner, er wird dem Schiffsführer ins Gewissen reden. Man muss das Kind über Bord werfen. Das Wort Gottes wiegt mehr als die Kommandos eines Kapitäns!«
»Verdammte, abergläubische Narren«, murmelte Zimenes’ als er sah, dass Sebald Rieter sich zum Zelt auf dem Achterkastell durchkämpfte. Die Negrona war so oder so verloren, ihre Positionslichter würden sie bei Nacht über Meilen verraten. Wütend zerrte er an seinen Fesseln, doch die schnitten sich nur tiefer in sein Fleisch.
Gabriel Zimenes schloss die Augen. Der Ohren füllende Lärm um ihn herum versank. Welch grausamen Scherz trieb Gott, so es ihn gab, mit ihm? Warum hatte er ihn damals vor Spaniens Küste vor einem ähnlichen Angriff errettet, um ihn nun untergehen zu lassen? In dem Wissen, dass nicht nur Mariflores, sondern auch ihr Kind verloren war? Verloren durch den Teufel Aleander und seine Metze Sidonia. Sollte sich sein Schmerz verdoppeln? Hatte er nicht genug Menschen sterben sehen? Indios,
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