Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
die Wanten und lösten die Taue. Segel flatterten im Wind. Der Kapitän gab Befehl zur Wende. Als der Bug sich drehte, entzogen sich die Lichter des Beiboots Sidonias Blick.
Sie löste sich von der Reling, sprang über Deck, als werde sie von Teufeln gehetzt, und gelangte zur gegenüberliegenden Reling. Stetiger Wind trug das Schiff fort von dem Beiboot, bis nur noch die Lichter an dessen hohem Heckgerüst zu erkennen waren. Die Laternen waren ein genaues Abbild der Positionslichter vom Heck der Negrona.
Sie wurden immer kleiner, während sich die wirkliche Negrona – unsichtbar für ihre Angreifer – entfernte. Eine Weile tanzten die Laternen noch als winzige Punkte auf den Wellen, dann hallte wieder Geschützdonner. Kanonensalven gingen nieder, Kugeln zerpeitschten das Meer. Sidonia schrie auf. Die Lichter auf dem Beiboot verloschen. Die Korsaren hatten sich täuschen lassen. Sie hatten ihr vermeintliches Ziel getroffen.
Sidonia sah, dass der Kapitän ein Kreuz schlug, in den Topmasten wurden die letzten Marssegel ausgebracht. Flink wie ein Pfeil und unentdeckt von den Korsaren schoss die Negrona in die Nacht. Ein riskantes Manöver, das nur dem gelang, der die Gewässer der Biscaya genau kannte. Sidonia starrte mit taubem Gefühl und brennenden Augen in die Finsternis. Zimenes’ letzte Bitte war erfüllt worden, er hatte einen raschen Tod gehabt.
Eine Hand grub sich in ihre linke Schulter.
»Nun, was konntest du noch über den Verbleib des Geldes erfahren«, fragte der Dominikaner.
Mutlos drehte Sidonia sich um. »Nichts«, krächzte sie.
»Es gibt also keinen Schatz! Du hast mich belogen, um Zimenes zu retten.« Seine schlanken Finger legten sich um ihren Hals. »Dafür werde ich dich töten.«
Sidonia schloss die Augen. Ja, warum nicht? Der Tod war ihr letzter Freund. La muerte war ihre Karte. So musste Mariflores empfunden haben. Hinter ihren Augenlidern explodierten Lichtwirbel, immer fantastischer sprühten und drehten sich die bunten Kreise. Während ihr die Luft wegblieb, wurde es hell, strahlend hell. Wie ein Blitz schoss ein Gedanke mit aller Macht in ihr hoch: Ich will leben. Ich will leben. Trotz allem, wegen allem. Gott will, dass ich lebe! Mit der Kraft des Zorns riss sie Aleanders Hände von ihrem Hals. Sie keuchte, schnappte nach Luft.
»Der Padre weiß, wo der Schatz ist!«
»Welcher Padre?«
»Fadrique«, stieß Sidonia hervor. »Lunetta wird wissen, wo er ist.«
»Das weiß ich selber.«
Sie konnte Aleanders Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen, aber sie hörte den tödlichen Hass in seiner Stimme. Wer war dieser Padre, dass zwei so unterschiedliche Männer wie Gabriel und Aleander ihn dermaßen verabscheuten? Ein mächtiger Mann, so viel war klar.
Dritter Teil
S ANTANDER, A NFANG A UGUST 1527
M AN MUSS MIT ALLEM RECHNEN,
AUCH MIT W UNDERN
Unbekannter Verfasser
1
Die Nachtfahrt der Negrona endete glücklich. Der Kapitän hatte das galicische La Coruña als Zielhafen aufgegeben, da es einen weiten Schlag nach Westen und eine Kreuzfahrt gegen den Wind erfordert hätte. Lieber war er im Schutz der Küste bis ins kantabrische Santander gesegelt, wo das Schiff zwei Tage nach dem Korsarenangriff landete.
Den Pilgern stand nun allerdings ein mühsamerer Weg als geplant bevor. Sie mussten die kantabrischen Kordilleren, eine Bergkette, die Spaniens maritimen Norden von der kastilischen Hochebene trennte, überqueren, um dann über den Camino francés nach Santiago zu pilgern. Ihr Weg wurde so um zweihundert Meilen verlängert.
Um sich für diesen Marsch zu stärken und das wiedergewonnene Leben zu feiern, verweilten Sebald Rieter und seine Gefährten zunächst in den Schenken Santanders. In kühlen Kellern genossen sie gebackene Krebse, Schweineschinken und Oliven aus dem Perejón. In den Betten der Pilgerherbergen andere Sünden des Fleisches. Schließlich würden sie mehr Gnadenpforten als erwartet durchschreiten und genügend Ablässe einheimsen, um sich zusätzliche Sünden leisten zu können. Spaniens Küste erglühte in der Umarmung des Sommers und war zu herrlich, um ihr sofort den Rücken zu kehren.
Sebald Rieter stiftete in der Pfarrkirche eine fünf Pfund schwere Wachskerze an den Ortsheiligen San Emeriterius, der ihm unbekannt, aber als Kopfreliquie zu bewundern war, und eine Seelenmesse für den Soldaten Goswin. An Zimenes, ihren Retter, gedachten die Pilger in so flüchtigem wie stillem Gebet. Die Wände, so hieß es, hätten in Spanien Ohren. Der Nächste horchte
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