Die Tatarin
schwedischen Feind vergessen zu haben. Die trügerische Ruhe schmolz jedoch eher als der Schnee. Der Winter hatte die Stadt noch fest in seinem Griff, als Stepan Raskin, den seine Gäste schon vermisst hatten, mit schreckensbleicher Miene unter seine Freunde trat.
»Einen Wodka! Schnell! Ich brauche einen Wodka.« Seine Stimme zitterte.
Sergej warf ihm eine Flasche zu. Raskin entkorkte sie mit den Zähnen und trank so durstig, als wäre sie mit Wasser gefüllt. Als er sie keuchend absetzen musste, schleuderte er sie heftig zu Boden, so dass Tropfen und Glassplitter durch den Raum spritzten. »Die Schweden sind in Russland eingedrungen! Sie haben Grodno eingenommen, keine zwei Stunden nachdem die Unseren die Stadt fluchtartig geräumt haben. Es muss ein Chaos gewesen sein mit schrecklichen Verlusten an Männern und Kriegsmaterial. Ich habe es eben bei Apraxin erfahren.«
Die Nachricht vom Tod des Zaren hätte nicht viel niederschmetternder wirken können. Es wurde so still im Saal, dass man die Scherben der Wodkaflasche unter den Stiefelsohlen knirschen hörte. Dann aber überschlugen sich die Stimmen. Flüche und Verwünschungen wurden ausgestoßen, während etliche aus der Gruppe die möglichen Verluste zu schätzen versuchten und einander fragten, ob Sankt Petersburg sich jetzt noch verteidigen ließe.
Sergej, der dem mutlosen Gerede kopfschüttelnd gefolgt war, schlug schließlich zornig auf den Tisch und zog die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. »Die Schweden sind in Grodno, sagst du? Das liegt aber nicht auf dem Weg hierher!«
Stepan Raskin blickte den Hauptmann an, als hätte dieser ihn von einem Albtraum erlöst, und brüllte einen Diener an, die Landkarten von Russland zu holen. Der Mann war so schnell wieder da, als hätte ihm die Angst vor den Schweden Flügel verliehen. Zwei von Stepansengeren Freunden fegten die störenden Gläser und Flaschen mit ihren Ärmeln beiseite und halfen Raskin, die Übersicht über den Westen des Reiches auf der Tischplatte auszubreiten. Die anderen versammelten sich um sie und begannen so heiß über die möglichen Absichten des Schwedenkönigs zu diskutieren, als handele es sich um eine Manöverübung.
Tirenko verdeutlichte seine Meinung mit den Fingern. »Ich hätte eher erwartet, Carl XII. würde die Küste entlang nach Riga marschieren, sich dort mit Lewenhaupts Truppen vereinigen, um dann zusammen mit Lybeckers finnischer Armee Sankt Petersburg in die Zange zu nehmen. Dabei hätte er unterwegs die Stadt Narwa und die Küste des Finnischen Meerbusens zurückerobern können, die seine Generäle in den letzten Jahren an uns verloren haben.«
Raskin wackelte nachdenklich mit dem Kopf. »Das kann er von Grodno aus immer noch tun.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich denke vielmehr, sein Ziel heißt Moskau.« Sergej zog die Linie vom Njemen bis an die Moskwa und blieb mit dem Finger auf der Hauptstadt stehen.
Raskin winkte heftig ab. »So ein Narr ist der Schwede nicht! Auf dem Weg müsste er mehr als tausend Werst ostwärts marschieren ohne die geringste Möglichkeit, Nachschub und Verstärkungen zu erhalten. Ich an seiner Stelle würde mir erst einmal das Baltikum und Ingermanland schnappen und dann von hier aus über Nowgorod und Twer nach Moskau vordringen.«
»Das sagst du, aber der Schwedenkönig denkt anders. Er will diesen Krieg mit einem einzigen, schnellen Feldzug beenden, und so, wie unsere Armee bereits jetzt vor ihm davonläuft, hat er alle Chancen dazu.« Der Sprecher war als Pessimist bekannt, doch nun zogen auch die anderen die Köpfe ein und sahen sich um, als stünde das schwedische Ungeheuer bereits hinter ihnen.
Schirin beteiligte sich nicht an den Diskussionen, sondern lauschte nur aufmerksam und wunderte sich über die Angst und den Schrecken, der die Männer im Griff hielt, auch wenn die meisten versuchten,großmäulig darüber hinwegzugehen. Was für ein Mann mochte der Schwedenkönig sein, wenn es ihm gelang, übermütigen, jungen Kriegern so viel Furcht einzuflößen? Ob auch der Zar von dieser Furcht ergriffen worden war? Das schien ihr sehr wahrscheinlich, denn sonst hätte er Grodno nicht fluchtartig räumen lassen, als die Schweden darauf zurückten. Zum ersten Mal seit Wochen dachte sie wieder an ihren Vater und fragte sich, ob der schwedische Vormarsch ihm wohl die Möglichkeit bot, sich des russischen Jochs zu entledigen. Auch wenn man sie nach Westen verschleppt und in die Uniform des Zaren gesteckt hatte, so fühlte sie
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