Die Tatarin
sich immer noch als Tatarin und Möngürs Tochter, und allein der Gedanke, dass ihr Stamm sich nun den erpresserischen Steuereintreibern beugen musste, ärgerte sie. Da kam ihr ein ganz neuer Gedanke. Zwar war sie hier, um für das Wohlverhalten ihrer Leute zu bürgen. Doch dadurch, dass der Zar sie zu einem russischen Soldaten gemacht hatte, war sie kein Garant mehr für ihn. Denn als solchen konnte er sie höchstens noch wegen eines militärischen Vergehens hinrichten lassen, zum Beispiel wegen Fahnenflucht.
Sie schüttelte diesen Gedanken ab und sah Semjon Tirenko zu, der eine halb volle Flasche Wodka an die Lippen hob. Nachdem beinahe der gesamte Rest in seiner Kehle verschwunden war, seufzte er tief auf. »Unsere schöne Zeit ist wohl vorbei. Bald werden wir wieder in den Sätteln unserer Pferde sitzen anstatt auf Stepans bequemen Stühlen.«
Sergej sah ihm zu und empfand den brennenden Wunsch, die Beklemmung, die ihn in ihren Klauen hielt, ebenfalls mit etlichen Schlucken Wodka hinunterzuspülen, doch ein Blick auf Bahadurs verächtliche Miene ließ ihn davon absehen. Der Tatar hatte wohl Recht. Es half nichts, sich den Kopf mit Schnaps einzulullen. Die Schweden marschierten trotzdem weiter, und die Armee des Zaren lief vor ihnen davon.
IX.
Am nächsten Tag erschien eine Ordonanz des Fürsten in Sergejs Wohnstall und überbrachte ihm den Befehl, sich umgehend bei Fürst Apraxin zu melden. Der Mann ließ ihm nicht einmal die Zeit, seine bessere Uniform anzuziehen. In Apraxins Quartier aber ließ man ihn stundenlang im Vorzimmer warten. Ordonanzen, Adjutanten und Diener eilten geschäftig hin und her, und niemand dachte daran, ihm eine Erfrischung oder zumindest einen Stuhl anzubieten. Während Sergej wie ein gefangenes Tier an der Wand entlang hin- und herwanderte, hörte er Apraxins zornige Stimme aus dem Nebenzimmer herausdringen.
»Wo zum Teufel bleibt Gjorowzew? Er sollte mit seiner Armee längst hier sein!«
Da eben eine Ordonanz zur Tür herausschoss und sie offen ließ, konnte Sergej auch die Antwort verstehen. »Gjorowzews letzte Position wurde von der Mologa gemeldet. Er sammelt seine Truppen bei Pestowo.«
Apraxin brüllte zornig auf. »Das hätte er bereits tun sollen, als er Sankt Petersburg im letzten Herbst verließ! Pestowo? Bei der Heiligen Jungfrau von Kasan! Lybeckers Truppen sind schon weitaus näher, und schneller marschieren die Schweden allemal. Werden wenigstens andere Verstärkungen gemeldet, Scheremetjew zum Beispiel?«
»General Scheremetjews Dragoner ziehen sich mit der restlichen Armee von Grodno Richtung Osten zurück«, kam die Antwort.
Fjodor Apraxin stieß einen derart gotteslästerlichen Fluch aus, dass jeder Pope entsetzt aufgeschrien hätte. »Sag doch gleich, dass er seinen Schwanz zwischen die Beine geklemmt hat und kopflos vor den Schweden davonrennt! Hol es doch der Teufel, aber mit so einerArmee will der Zar Russland verteidigen? Stell den Schweden ein paar tausend Bauernmägde in den Weg, die halten sie länger auf.«
Einer der Männer wagte zu lachen, schwieg aber sofort wieder, als Apraxin mit eisiger Stimme weitersprach. »Wir sind auf uns selbst angewiesen, andere Hilfe gibt es nicht. Ruft mir Tarlow herein. Dessen sibirische Halsabschneider sind nahe genug herangekommen, um uns von Nutzen sein zu können.«
Sergej hatte schon die Tür erreicht, als ein Adjutant auf ihn zukam und ihn sichtlich erleichtert willkommen hieß. Einen Herzschlag später stand er im Zimmer des Gouverneurs und salutierte. »Hauptmann Tarlow meldet sich wie befohlen zur Stelle.«
Apraxin winkte ungehalten ab. »Schon gut. Komm her, Tarlow, und sieh dir den Schafsmist an, in dem wir bis zum Hals stecken. Ich verfüge gerade nur über so viele Garnisonstruppen, um die Festung Schlüsselburg im Ladogasee und die Peter-und-Paul-Festung hier in Sankt Petersburg bemannen zu können, und es bleiben mir dann nur noch eine Hand voll Dragoner, die ich gegen Lybeckers Heer einsetzen kann. Es ist zum Davonlaufen! Wenn die Schweden hier erscheinen, muss ich die Stadt bis auf die Festung räumen, und was der Feind dann aus Sankt Petersburg macht, kannst du dir vorstellen. Pjotr Alexejewitsch wird uns alle vierteilen lassen, wenn das passiert.«
»Wenn er dann noch der Zar ist«, flüsterte einer der anwesenden Offiziere vor sich hin.
»Wer war das?« Apraxin fuhr hoch, doch keiner meldete sich. »Wir werden diesen Krieg gewinnen! Jeder, der das nicht glauben will, wird ihn in den Kerkern der
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