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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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gefunden hatten. Mit Paavo als Führer hoffte er, den Heereszug der Schweden überholen und die Vorhut, die für den Bau der Bohlenpfade verantwortlich war, angreifen zu können. Das Land, durch das sie kamen, wurde von unzähligen kleinen Teichen und schmatzenden Schlammlöchern durchzogen, und ohne Führer hätte er wohl die Hälfte seiner Leute im grundlosen Morast verloren. Die Blicke des Wachtmeisters und der meisten Steppenreiter verrieten, dass sie fest überzeugt waren, der Finne würde sie in den Untergang führen; Sergej aber war sich sicher, dass Paavos Wille fürs Erste gebrochen war und der Mann ihm dienen würde wie ein treuer Hund. Er glaubte auch nicht, dass der Finne eine günstige Gelegenheit nutzen würde, zu den Schweden zurückzukehren, denn die würden ihn für einen Verräter halten und ihn mindestens ebenso grausam umbringen, wie die Kalmücken es mit seinen Kameraden gemacht hatten. Daher war der Hauptmann besserer Stimmung und legte ein strammes Tempo vor.
    Gegen Mittag tauchte zur linken Hand einer der wenigen Hügel auf, die über die eintönige Sumpflandschaft ragten. Sergej lenkte Moschka bis zu seinem Fuß und erklomm die Kuppe, um sich einen Überblick zu schaffen. Oben musste er beinahe auf dem Bauch durch die niedrigen Büsche kriechen, um nicht gesehen zu werden, denn knapp einen Werst entfernt zog der Heereszug der Schweden wie ein vielfüßiges Kriechtier über seine hölzerne Straße. Die Vorhut bewegte sich wohl schon jenseits des Horizonts, so dass seine Hoffnung zerrann, sie an diesem Tag noch erreichen zu können. Ehe er seinem Ärger darübermit ein paar leisen, aber deftigen Flüchen Ausdruck geben konnte, tat sich nicht weit vor ihm eine Lücke in dem Heereszug auf. Die Infanterie marschierte mit geschulterten Musketen und Piken weiter, ohne zu bemerken, dass ein Trupp Artillerie stehen blieb, um ein Geschütz, das vom Bohlenweg abgeglitten war und ihn dabei beschädigt hatte, auf sicheren Boden zu schaffen.
    Sergej zitterte vor Erregung. Das war seine erste Chance, den Schweden einen fühlbaren Schlag zu versetzen. Sein Blick glitt prüfend über die Strecke, die ihn vom Bohlenweg trennte. Wenn der gefangene Finne sie nicht in eine Falle führte, mussten sie es schaffen, dorthin zu reiten, die Artilleristen niederzukämpfen und sich wieder zurückzuziehen, ohne von den nachrückenden Truppenteilen in die Zange genommen zu werden. Nun kam es auf jede Minute an. Sergej rutschte den Hügel hinab, sprang auf Moschka und kehrte, so schnell der Boden es zuließ, zu seinen Leuten zurück.
    »Es geht los! Wir greifen an!«
    Wanja lächelte beinahe erleichtert und lud mit grimmiger Miene seinen Karabiner; Schirin holte tief Luft und setzte eine Maske wilder Kampfgier auf, wie man es von einem Tataren erwartete. In Wahrheit aber wünschte sie sich ans andere Ende der Welt. Sie hatte den Schrecken des nächtlichen Überfalls noch nicht verwunden und ging nur mit Widerwillen in den nächsten Kampf, aber da sie als Bahadur gelten musste, durfte sie keine Schwäche zeigen. Ebenso wie die anderen stieg sie aus dem Sattel, nahm Goldfell am Zügel und reihte sich in die Schlange der Männer ein, die ihre Pferde im Schutz der hier dicht stehenden Büsche weiterführten, um so lange wie möglich unentdeckt zu bleiben.
    Kitzaq gesellte sich zu ihr und musterte sie neugierig. »Während der Überfälle auf die Dörfer haben dich etliche der Männer für eine Memme gehalten, aber heute Nacht hast du deinen Wert bewiesen, Bahadur. Die finnischen Hunde hätten nicht nur unseren russischen Anführer, sondern auch noch etliche von uns umgebracht und sich danach im Schutz der Nacht davongeschlichen.«
    Schirin nickte scheinbar gelassen. Kitzaq hatte Recht, aber ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, wieder einen Menschen getötet zu haben, auch wenn es ebenso wie bei den Überfällen nur als Abwehr eines Angriffs geschehen war. Allah hatte die Frauen geschaffen, um der Welt neues Leben zu schenken und nicht, um zu morden. Sie verfluchte Zeyna und ihren Vater, die sie in diese unnatürliche Existenz gezwungen hatten, und fragte sich, wieso sie sich dennoch so stark nach ihrer Heimat sehnte. Die Antwort gab sie sich gleich selbst: Sie konnte nicht auf Dauer als angeblicher Tatar bei den Russen bleiben. Ohne Kitzaq hätte man ihr Geschlecht längst entdeckt und ihr wohl das gleiche Schicksal bereitet wie den finnischen Frauen. Sie versuchte, ihren trockenen Gaumen zu befeuchten, und bleckte die Zähne.

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