Die Tatarin
festhalten musste, damit man nicht selbst in die Tiefe stürzte. Während dieser Tage achtete Wanja darauf, dass keiner zu viel trank, denn seinen Berichten zufolge waren schon viele Reisende, die dem Wodka zu stark zugesprochen hatten, über solch einen Balken in die ewige Seligkeit gestürzt.
Anders als Händler und gewöhnliche Reisende brauchten sie wenigstens keine Räuber, Bären oder Wölfe zu fürchten. Selbst der verwegenste Schnapphahn scheute davor zurück, sich mit den Soldaten des Zaren anzulegen, und jeder Wolf, der in der Nacht um eine der Hütten schlich, die nur ihr Besitzer eine Herberge nennen konnte, machte unliebsame Bekanntschaft mit den Bleikugeln aus den Karabinern der Dragoner. Es kam auch sonst zu keinem unliebsamen Zwischenfall, und so befand sich die Gruppe bereits in den westlichen Ausläufern des Gebirges, als sie am späten Nachmittag auf Reisende stießen, die in Not geraten waren.
Ein von drei Pferden gezogener Reisewagen war vom Weg abgekommen und verunglückt. Der Wagenkasten hing halb über dem Steilufer des Flüsschens Sim und drohte in die Tiefe zu stürzen. Der Kutscher, ein verwittert aussehender Mann in einem abgetragenen Schaffellkaftan und einer schmierigen Pelzmütze, versuchte verzweifelt, das Gefährt festzuhalten und hochzuziehen. Ein ebenfalls schon älterer Mann, dessen mit Eichhörnchenfell besetzter Kaftan aus Brokat einen gewissen Wohlstand verriet, half ihm dabei, während aus dem Inneren das panikerfüllte Kreischen einer jungen Frau herausdrang.
»Sei vorsichtig, Mascha, Töchterchen! Halte dich fest, bewege dich nicht«, flehte der gut Gekleidete.
Sergej erfasste die Situation mit einem Blick und gab seinem Braunen die Sporen. Innerhalb weniger Sekunden war er am Wagen und fasste vom Sattel aus zu. Schirin war beinahe ebenso schnell wie er, und gemeinsam gelang es ihnen, den Wagen auf sicheren Boden zurückzuziehen.
Der Kutscher und sein Herr standen einen Augenblick ungläubig da, doch während der Bedienstete sich besann und zu seinen Pferden rannte, die ein Stück weitergelaufen waren, ergriff der Mann im Brokatkaftan Sergejs Hand und drückte sie an seine Lippen. Das Gleiche machte er dann auch bei Schirin.
»Ich danke euch, edle Herren! Ihr habt mein Töchterchen gerettet, mein Herzblatt, mein einziges Kind, das ich schon in die Fluten des Flusses stürzen und ertrinken sah.«
Sergej hob abwehrend die Hand. »Schon gut! Es war unsere Christenpflicht, euch beizustehen.« Noch während er es sagte, erinnerte er sich daran, dass Bahadur kein Christ war und trotzdem geholfen hatte. Er sah ihn an und stellte fest, dass das Gesicht des Tataren wieder den gewohnt hochmütigen Ausdruck angenommen hatte. Dennoch wollte er ihm seine Anerkennung aussprechen, aber die junge Frau, die eben aus dem Wagenkasten stieg, lenkte ihn ab. Sie trug einen bodenlangen, dunkelroten Frauenkaftanohne Ärmel und darunter ein besticktes blaues Hemd mit weiten Ärmeln und eine dicke Schicht Unterröcke, die sie stämmiger aussehen ließ, als sie sein mochte. Ihren Kopf bedeckte eine mit Goldfäden verzierte Haube, die nur ihr hübsches, wenn auch ein wenig rundliches Gesicht freiließ. Als sie den Blick zu Sergej erhob, erblickte er einen vollen, roten Mund, ein kurzes Näschen und zwei große dunkle Augen, die ihn mit sichtlichem Interesse musterten.
»Euch verdanke ich mein Leben, edler Herr!«, hauchte sie verschämt. Sergej hob die Hände. »Dankt Gott, der Heiligen Jungfrau oder dem heiligen Dimitri, aber nicht mir.«
Der Vater des Mädchens fiel ihm ins Wort. »Oh doch, Herr! Wir müssen Euch danken. Ich bin Jurij Gawrilitsch, ein Kaufmann aus Tobolsk, und das ist meine Tochter Mascha. Wir sind auf dem Weg zur jährlichen Messe in Nischni Nowgorod. Ich will dort Waren kaufen und« – er hüstelte verlegen – »ein Ehemännchen für meine Mascha suchen.« Er warf Sergej dabei einen abschätzenden Blick zu und schien sich zu fragen, ob der Offizier sich wohl als Schwiegersohn eignen würde.
Sergej blickte sich suchend um. »Hattet ihr denn keine weiteren Begleiter, Jurij Gawrilitsch? Für einen Mann wie dich ist es gefährlich, ohne Schutz durch die Wildnis zu reisen, zumal mit einer so jungen und schönen Tochter.«
Die Augen des Mädchens leuchteten bei diesem beiläufigen Kompliment auf, während ihr Vater mit einer verzweifelten Geste die Hände hob. »Freilich hatte ich bewaffnete Knechte bei mir. Doch im letzten Dorf hörten sie von einem Bären, der dort sein
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