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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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im Heer. Oder kann jemand von euch lesen?« Die Frage galt allen Sibiriern.
    Eine der Geiseln hob schüchtern den Arm. »Verzeiht, erhabener Khan, ich habe gelernt, die Schriften des Korans zu entziffern.«
    »Aber kein Russisch!« Es klang wie ein Musketenschuss. Der Sibirier schüttelte betroffen den Kopf. Die Gedanken des Zaren wanderten bereits weiter. »Kann einer von euch überhaupt Russisch lesen? Weiß jemand, was diese Schrift hier bedeutet?« Er zeigte auf das Brett, an dem er gearbeitet hatte.
    Die übrigen Geiseln wichen ängstlich zurück, so dass Schirin plötzlich allein vor Pjotr Alexejewitsch stand. Der Mund des Zaren verzog sich in gutmütigem Spott. »Du willst doch nicht behaupten, dass du es lesen kannst!«
    Schirin fühlte einen Schauer durch ihren Körper laufen, in dem sich Furcht und eine gewisse Empörung mischten. Ihre Mutter hatte ihr die eigenartigen Schriftzeichen ihres Volkes beigebracht, doch in den Jahren seit deren Tod hatte sie vieles wieder vergessen. Nun aber brach ein Damm in ihrem Innern, hinter dem ihr Wissen sich versteckt hielt, und die Buchstaben bekamen plötzlich einen Sinn.
    Schirin begann zunächst noch stockend, dann aber immer flüssiger zu lesen. »Sankt Nikofem, gefertigt von Pjotr Michailowitsch, Zimmermann!«
    Hätte Schirin dem Zaren vor allem Volk eine Ohrfeige verpasst, er hätte kaum verdutzter aussehen können. Er starrte sie an, kratzte sich über seinen kurz geschorenen Schädel und lachte dann laut auf.
    »Bei allen Heiligen, der Kleine kann etwas! Katinka, bring die Wodkaflasche. Ich will mit dem Burschen anstoßen.«
    Schirin verzog angewidert die Nase. »Ich trinke keinen Schnaps!«
    Wanja japste entsetzt. »Bei Gott, Bahadur, bist du verrückt! Wenn der Zar persönlich dich einlädt, ist das ein Befehl.«
    Anstelle einer Antwort verschränkte Schirin die Arme vor der Brust und funkelte den Beherrscher aller Russen kämpferisch an. In dem Moment spürte sie eine Berührung am Arm, drehte sich unwillig um und erkannte die ältere Frau, die die Mägde beaufsichtigt hatte.
    »Söhnchen, du musst trinken, wenigstens ein Glas. Man widerspricht dem Zaren nicht!«, flehte sie ängstlich.
    Schirin wurde unsicher und überlegte, ob sie nicht lieber nachgeben sollte. Ein Rest ihres Trotzes ließ das jedoch nicht zu. Sie ignorierte das Glas, das Jekaterina ihr reichte, und trat in die Reihe der anderen Geiseln zurück, die mit durstigen Blicken auf den Schnaps starrten. Der Zar dachte jedoch nicht daran, ihnen einschenken zu lassen, sondern maß den aufmüpfigen Tataren mit düsteren Blicken, nahm Jekaterina das Glas aus der Hand und trank es leer. Er nickte, als müsse er einen Gedanken, der ihm eben gekommen war, noch einmal bestätigen.
    »Du bist der Erste, der es je abgelehnt hat, mit mir zu trinken, Bürschchen. Wir werden sehen, ob du morgen noch genauso mutig bist. Bring die Kerle jetzt weg, Tarlow. Ich will sie morgen um neun Uhr am Anleger der Sankt Nikofem sehen.« Der Zar grinste dabei wie ein kleiner Junge, der seiner Schwester kurz geschnittene Pferdehaare ins Bett geschmuggelt hatte und sich nun amüsierte, weil sie vor lauter Jucken nicht zum Schlafen kam.

III.
    Nach einer fast schlaflos verbrachten Nacht und einem von den Vorwürfen der anderen Geiseln gewürzten Frühstück wurde Schirin am nächsten Morgen gemeinsam mit der gesamten Gruppe auf ein Boot getrieben und die Newa abwärts geschafft. Sie hatten in einem riesigen Gebäude aus Stein übernachtet, das dem Fürsten Menschikow gehören sollte, sich aber erst im Bau befand. Da es noch kein Dach besaß, war es ein feuchter und alles andere als angenehmer Ort. Selbst die Decken, die man ihnen gegeben hatte, waren klamm gewesen, doch auf dem Weg zum Ufer war Schirin klar geworden, dass ihre Gruppe es im Gegensatz zu den Leuten, die hier arbeiten mussten, noch gut getroffen hatte. Die armen Hunde, die Menschikows Palast errichteten, hausten in Erdlöchern, die sie notdürftig mit Zweigen abgedeckt hatten und die bei Regen voll Wasser liefen. Sie schufteten mit bloßen Händen und schleppten die Erde in primitiv geflochtenen Körben oder gar mit den Schößen ihrer altertümlichen Kaftane heran. Nun wunderte Schirin sich nicht mehr, dass man diesen Leuten ihre gewohnte Kleidung belassen und sie nicht gezwungen hatte, Röcke und Hosen nach dem Vorbild des Zaren anzuziehen. In denen hätten sie nämlich nichts transportieren können.
    Auf ihrem Weg kamen sie an einer Insel vorbei, auf der Hunderte

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