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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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von Arbeitern mit ähnlich primitiven Mitteln am Werk waren. Wanja, der auch an diesem Tag neben Bahadur Platz genommen hatte, deutete ehrfürchtig auf das fast fertige Bauwerk. »Das ist die Festung Sankt Peter und Paul!«
    Schirin nickte beeindruckt, denn obwohl die Festung zum größten Teil aus mit Baumstämmen verstärkten Erdwällen bestand, machte sie mit ihren drohend in den Himmel ragenden Kanonen einenwehrhaften Eindruck. Einer der vier Ecktürme war erst halbfertig, und Schirin betrachtete staunend die wuchtigen Steinquadern, die herangeschafft wurden. Auch hier schufteten Hunderte oder gar Tausende Menschen unter entsetzlichen Bedingungen. Sie schauderte, als sie daran dachte, dass der Zar sie und die übrigen Geiseln zu dieser Arbeit hätte zwingen können. Da war es hundertmal besser, Soldat zu werden, auch wenn es ihr in der Seele wehtat, für die Russen kämpfen zu müssen.
    »Du hast wohl doch ein wenig Angst vor dem, was der Zar mit dir vorhat?«, spottete Wanja, der Bahadurs Mienenspiel missverstand. »Da hättest du den Wodka gestern nicht ablehnen dürfen! An dem einen Glas wärst du gewiss nicht gestorben, und Väterchen Pjotr Alexejewitsch wäre mit dir sehr zufrieden gewesen. Wer weiß, vielleicht hätte er dich ebenfalls auf die Kadettenschule geschickt, und du wärst einmal ein richtiger Offizier des Zaren geworden, ein Leutnant oder gar ein Hauptmann wie unser guter Sergej Wassiljewitsch.«
    Schirin antwortete nur mit einem kurzen Schnauben, doch das hinderte Wanja nicht daran, weiterzureden. Bahadur war in seiner Phantasie gerade bis zum General aufgestiegen, als der Steuermann das Ruder scharf herumzog und das Schiffchen sich so stark zur Seite legte, dass es beinahe Wasser aufgenommen hätte. Ostap stieß einen erschreckten Ruf aus und wurde dafür von Ilgur verlacht, obwohl dieser kaum weniger bleich war als der Junge.
    Schirin achtete kaum noch auf das, was um sie herum vorging, denn sie konnte den Blick nicht von den Schiffen wenden, die nun in Sicht kamen. Sie glichen auf dem Wasser schwimmenden Palästen und trugen hoch in den Himmel ragende Masten. Über den größten und bauchigsten flatterten Banner mit einem Kreuz aus acht auseinander strebenden Balken auf dunklem Grund, während andere eine einfache, gestreifte Fahne in den Farben Rot, Weiß und Blau trugen oder bunte Wappen wie zum Beispiel einen weißen Schlüssel auf rotem Tuch.
    Etwas abseits dieser Schiffe tauchten weitere, meist kleinere Segler auf, über denen eine große weiße Fahne mit einem blauen Schrägkreuz wehte.
    »Das ist die Flotte des Zaren! Lauter Fregatten und Korvetten, wie man sie nennt, und dort hinten siehst du seine Galeeren.« Schirins Blick folgte Wanjas Hand, die auf eine große Zahl langer und schmaler Schiffe mit niedrigen Bordwänden, einem einzigen, nicht besonders hohen Mast und vielen Rudern an der Seite deutete. Diese Bauweise verstand sie, denn hier sah man auf Anhieb, wie diese Galeeren angetrieben wurden, während bei den dickbauchigen Schiffen wohl Zauberei im Spiel sein musste.
    Ihr Boot steuerte auf ein kleineres Schiff mit zwei Masten zu, so dass Schirin die verwirrende Anordnung der Seile, die auf beiden Seiten zu den Mastspitzen hoch gespannt waren, ebenso mit verwunderter Neugier betrachten konnte wie die dicht über das Deck ragenden Querbäume, zu denen ebenfalls verschiedene Seile führten. Der Zar wartete schon oben an Deck und winkte dem Steuermann, der auf das Ufer hinter dem Schiff zuhalten wollte, längsseits zu gehen. Dabei amüsierte er sich offensichtlich über die Sibirier, die das Schiff anstarrten, als wäre es der Eingang zur Hölle.
    Schirin erhaschte einen kurzen Blick auf die Stelle am Bug, auf der das Brett angebracht war, welches der Zar am Abend zuvor bemalt hatte. Es sollte wohl dem Schiff einen Namen geben und damit auch einen guten Geist, der es beschützte.
    Der Zar selbst warf eine Strickleiter nach unten und sah mit diebischem Vergnügen zu, wie zögernd und ängstlich seine Geiseln die gut anderthalb Mannslängen an der schwankenden Bordwand hochkletterten. Als Schirin an der Reihe war, beugte Pjotr Alexejewitsch sich nieder, packte die Leinen der Strickleiter und riss kurz daran, so dass sie durch den scharfen Ruck beinahe den Halt verlor und sich verzweifelt an der glitschigen Holzsprosse festklammerte. Nach einem tiefen Atemzug kämpfte sie sich Armlänge um Armlänge nach oben. Als sie die Reling erreichte, streckte ihr der Zar dieHand entgegen. Im

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