Die Tatarin
Zarewna Sofia angezettelten Strelitzen-Aufstand ihre gesamte Familie verloren. Die wenigen, die von den Strelitzen nicht sofort umgebracht worden sind, hat man nach Sibirien verschleppt und dort elend umkommen lassen.«
Sergej spürte, dass Jekaterina weder der Halbschwester des Zaren noch deren Anhang und den Strelitzen verziehen hatte, wie diese Pjotr Alexejewitsch und seine Verwandten damals behandelt hatten. So wie Marfa Alexejewna und ihrer Familie war es vielen Menschen ergangen, die den damaligen Machthabern im Weg gestanden hatten. Aber auch der jetzige Zar verbannte seine Feindenach Osten über den Ural, und der Nächste würde es wohl auch wieder tun.
Sergej schob die bedrückenden Gedanken beiseite und sah Jekaterina an. »Ich danke Euch, Mütterchen! Mir tut die Dame Leid. Sie hat wohl auf ein Wunder gehofft, aber solche geschehen in diesen gefährlichen Zeiten nicht mehr.«
Jekaterinas Blick wanderte zu Schirin hinüber. »Ihr meint, wegen dieses Tataren? Dieser Jüngling sieht wirklich nicht aus wie ein Steppenwilder, sondern gleicht uns zivilisierten Menschen. Das mag Marfas Auge getäuscht haben.«
Sie schenkte Sergej noch einmal nach und ging weiter. Sergej aß seine Suppe auf und schlenderte dann doch hinüber zu Bahadur, setzte sich aber neben Wanja. »Es ist noch ein schöner Abend geworden, nicht wahr? Wie oft saßen wir zu einer solchen Stunde zusammen, den Becher in der Hand und über uns die Sterne …«
»Die wir wegen dieses verdammten Nebels hier wohl niemals sehen werden, Sergej Wassiljewitsch«, unterbrach Wanja ihn mit einem kurzen Auflachen.
»Auch hier wird es Zeiten geben, in denen der Himmel klar ist. Dennoch sehne ich mich ein wenig in die Steppe zurück.« Sergej atmete tief durch und versank dann wieder in trübe Gedanken. Auch den drei anderen war nicht zum Reden zumute, und doch fühlten sie sich in dieser Stunde miteinander verbunden. Schirin hätte diesen Augenblick nicht missen mögen und musste sich sagen, dass die Geiselhaft ihr bisher nicht nur unangenehme Dinge, sondern auch schöne Augenblicke beschert hatte, zu denen dieser Abend gehörte. Sie starrte in das Feuer, das von knorrigen Kiefernästen genährt wurde, und roch den Duft des brennenden Harzes.
In der Stille, die sich über den Vorplatz gesenkt hatte, drang eine verärgerte, durch die Mauern des Hauses gedämpfte Stimme an ihre feinen Ohren. »Ich wünschte, du wärst der Sohn, den ich mir erhofft habe, und würdest mir helfen, Russland aus der Gefahr herauszuführen. Doch du gehst jeder Herausforderung aus dem Wegund bist so feige, dass du das Land hier den Schweden zurückgeben würdest. Wer bläst dir eigentlich ins Ohr, dass ich diesen Boden unrechtmäßig an mich gebracht hätte? Das hier ist uralte, russische Erde, die schon Rjurik, der erste Großfürst unseres Volkes, beherrscht hat. Einige Jahrhunderte lang gehörte Ingermanland dann zu Nowgorod und später zum Großfürstentum Moskau. Die Schweden haben es erst in der Zeit der Wirren nach dem Tod Iwans IV. unserem Reich entrissen.«
Die Antwort auf diese leidenschaftliche Rede konnte Schirin nicht verstehen, doch eines begriff sie mit absoluter Sicherheit: Der Zar und sein Sohn waren alles andere als ein Herz und eine Seele.
II.
Das Gesicht des Zaren war noch immer vor Zorn gerötet. Gerade hatte er seinen Sohn mit einigen deftigen Flüchen aus dem Haus gejagt und Jekaterina barsch befohlen, endlich diese verdammten Sibirier zu ihm zu bringen. Nun stand Schirin inmitten einer sichtlich verängstigten Schar von Geiseln vor einem lang aufgeschossenen Mann mit einem seltsam kleinen Kopf, leicht hervorquellenden Augen und einem verkniffenen Mund. In seinem mehrfach geflickten dunkelbraunen Rock, dessen Ellbogen mit Lederflecken verstärkt waren, der ausgebeulten Kniehose und den schmutzigen Schuhen sah Pjotr Alexejewitsch nach allem anderen aus als nach dem Zaren und Beherrscher des Russischen Reiches. In seinen Händen, die so kräftig waren wie die eines Bauern, hielt er einen Pinsel, mit dem er ein geschnitztes Brett bemalt hatte. Etwas von der Farbe hatte sich auf seine Wange verirrt und wirkte dort wie eine Säbelnarbe.
Sergej salutierte straff. »Euer Majestät, Sergej Wassiljewitsch Tarlow meldet sich zur Stelle. Ich bin befehlsgemäß mit den sibirischen Geiseln in Sankt Petersburg eingetroffen.«
Der Zar winkte ärgerlich ab. »Heb dir deine Ehrenbezeugung für deinen General auf. Ich habe keine Zeit für solchen Unsinn. Das sind also
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