Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
gemeint ist.»
Jiritsus Augen füllen sich mit Tränen. «Sind wir denn nicht mehr als die Gesamtheit unserer Taten?»
Otane entscheidet sich, offen zu sprechen. «Novize-sama, habt Ihr im Shiranui-Schrein Fräulein Aibagawa gesehen?»
Er blinzelt, und sein Blick wird klarer. «Die Jüngste Schwester. Ja.»
«Ist sie ...», Otane weiß nicht recht, was sie fragen soll, «... ist sie gesund?»
Er stößt ein tiefes, trauriges Summen aus. «Die Pferde wussten, dass ich sie töten würde.»
«Wie ...», Otanes Stößel steht still, «... behandelt man Fräulein Aibagawa?»
«Wenn sie mich hört», Jiritsu starrt wieder ins Leere, «bohrt sie seinen Finger durch mein Herz ... morgen ... werde ich von diesem Ort erzählen - nachts hört sie zu gut. Morgen bin ich schon auf dem Weg nach Nagasaki. Ich ... ich ... ich ... ich ...»
Ingwer für den Kreislauf Otane geht zum Arzneischrank, Mutterkraut gegen den Fieberwahn.
«Meine Hand, mein Pinsel: Sie wussten es, bevor ich selbst es wusste.» Jiritsus matte Stimme folgt ihr. «Vor drei Nächten, es kann auch vor drei Zeitaltern gewesen sein, saß ich in der Schreibstube und verfasste den Brief einer Gabe. Die Briefe sind ein minderschweres Vergehen, Genmu nennt sie ‹Briefe der Barmherzigkeit› ... aber ... aber ich verließ meinen Körper, und als ich zurückkehrte, hatte meine Hand, hatte mein Pinsel ...», er zuckt zusammen und flüstert: «... hatte ich die Zwölf Gebote aufgeschrieben. Schwarze Tinte auf weißem Pergament! Sie auszusprechen , ist schon eine Gotteslästerung, außer für Meister Genmu und den Fürstabt, aber sie niederzuschreiben, damit das Auge eines Laien sie lesen kann ... Sie muss mit etwas anderem beschäftigt gewesen sein, sonst hätte sie mich sofort getötet. Meister Yōten ging direkt hinter mir vorbei ... Starr las ich die Zwölf Gebote, und zum ersten Mal erkannte ich, dass ... das Schlachthaus in Saki dagegen das Paradies gewesen war.»
Otane zerstößt Ingwer. Sie versteht nur wenig, aber ihr wird kalt ums Herz.
Jiritsu zieht einen Schriftrollenbehälter aus Hartriegelholz aus seinem Untergewand. «Es gibt ein paar wenige mächtige Männer in Nagasaki, die Enomoto noch nicht gehören. Vielleicht erweist sich Statthalter Shirovama als ein Mensch mit Gewissen ... und Äbte von rivalisierenden Orden lauern erwartungsvoll auf schreckliche Enthüllungen, und das hier ...», er blickt stimrunzelnd auf den Behälter, «... ist schrecklicher als schrecklich.»
«Dann beabsichtigt Novize-sama», fragt Otane, «nach Nagasaki zu gehen?»
«Nach Osten.» Der gealterte junge Mann blickt suchend im Raum umher. «Kinten wird mich verfolgen.»
«Um Novize-sama zu überreden», sagt sie hoffnungsvoll, «in den Schrein zurückzukehren?»
Jiritsu schüttelt den Kopf. «Der Weg für diejenigen, die ... sich abwenden, ist vorgezeichnet.»
Otane sieht hinüber zu ihrem unbeleuchteten Butsudan-Altar. «Versteckt Euch hier.»
Der Novize blickt durch gespreizte Finger ins Feuer. «Als ich durch den Schnee stolperte, dachte ich: Otane aus Kurozane wird mir Unterschlupf gewähren ... »
«Die alte Frau ist froh ...», Ratten scharren im Dachstroh, «... ist froh, dass Ihr so denkt.»
«...für eine Nacht. Bleibe ich auch nur eine Nacht länger, wird Kinten uns beide töten.»
Er sagt es ganz nüchtern, wie jemand, der eine simple Feststellung macht.
Feuer verzehrt Holz , denkt Otane, und die Zeit verzehrt uns.
«Vater nannte mich ‹Junge›», sagt er. «Der Gerber nannte mich ‹Hund›. Meister Genmu nannte seinen neuen Novizen ‹Jiritsu›. Wie heiße ich jetzt?»
«Erinnert Ihr euch noch», fragt sie, «wie Eure Mutter euch genannt hat?»
«Im Schlachthaus träumte ich oft von einer ... mütterlichen Frau, die mich Mohei nannte.»
«Das ist sie bestimmt gewesen.» Otane gießt Tee über das Pulver. «Trinkt.»
«Wenn Fürst Enma mich für sein Höllenbuch nach meinem Namen fragt ...», der Flüchtling nimmt die Schale entgegen, «... werde ich Folgendes sagen: ‹Mohei, der Abtrünnige›.»
Otanes Träume handeln von geschuppten Flügeln, entsetzlicher Blindheit und fernem Klopfen. Sie erwacht unter ihrer Hanfdecke, auf Stroh und Federn. Ihre Wangen und die Nase sind taub vor Kälte. Im schneeblauen Tageslicht, das durch die Fensterritzen sickert, sieht sie Mohei, der zusammengerollt vor dem fast verloschenen Feuer liegt, und auf einmal fällt ihr alles wieder ein. Sie beobachtet ihn eine Weile, unsicher, ob er wach ist oder
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