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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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zweiten Mal beschenkt wurde, bekam sie auch Zwillinge. Sie stieg mit einer Geburt zwei Ränge auf. Wenn die Göttin mich mit Zwillingen gesegnet hat ...»
    «Was versteht dieses Stück Holz», sagt Orito scharf, «schon von menschlichen Schmerzen?»
    «Bitte, Schwester!», flüstert Yayoi. «Das ist, als würdest du deine eigene Mutter beleidigen!»
    Orito bekommt wieder Bauchkrämpfe, und sie ringt nach Luft.
    «Siehst du, Schwester? Sie hört dich. Entschuldige dich bei ihr, dann lässt sie davon ab.»
    Je mehr Trost mein Körper in sich aufnimmt , weiß Orito, desto mehr braucht er davon.
     
    Sie trägt den Eimer mit Yayois übelriechendem Erbrochenen durch die Wandelgänge zu den Abfällen.
    Krähen hocken auf dem First des steilen Dachs und mustern die Gefangene.
    «Warum hast du ausgerechnet mein Leben gestohlen», würde sie Enomoto gerne fragen, «obwohl du dir jede Frau kaufen kannst, die du haben willst?»
    Aber in fünfzig Tagen ist der Abt nicht ein einziges Mal in seinem Schrein gewesen.
    «Geduld», antwortet Äbtissin Izu auf all ihre Fragen und ihr Flehen, «Geduld.»
    In der Küche rührt Schwester Asagao Suppe über einem schnaufenden Feuer. Asagaos Entstellung gehört zu den faszinierendsten im Haus: Ihre Lippen sind kreisförmig verwachsen, wodurch auch ihre Sprache deformiert ist. Ihre Freundin Sadaie wurde mit einer Schädelmissbildung geboren, die ihrem Gesicht ein katzenhaftes Aussehen mit unnatürlich großen Augen verleiht. Als sie Orito sieht, verstummt sie mitten im Gespräch.
    Warum , überlegt Orito, sehen die zwei mich an wie Eichhörnchen eine hungrige Katze?
    Die Mienen der beiden verraten ihr, dass sie wieder einmal laut gedacht hat.
    Das ist eine weitere Tücke des Hauses und des Trosts.
    «Schwester Yayoi leidet unter Übelkeit», sagt Orito. «Ich möchte ihr eine Schale Tee bringen. Bitte.»
    Sadaie deutet mit einem Blick auf den Kessel: Eines ihrer Augen ist braun, das andere grau.
    Unter ihrem Gewand zeichnet sich ein schwangerer Bauch ab.
    Es wird ein Mädchen , denkt die Arzttochter, während sie die bittere Kräutermischung eingießt.

    «Tor öffnen, Schwestern!», ruft der verschnupfte Novize Zanō. Orito eilt über den Korridor und öffnet zwischen den Zimmern von Äbtissin Izu und Hausmutter Satsuki die Schiebewand. Einmal, in ihrer ersten Woche, war es ihr von hier aus gelungen, durch beide Torreihen hindurch einen Blick auf das Schreingelände zu werfen, und sie sah Treppen, eine Gruppe Ahornbäume, einen Meister mit blauem Umhang und einen Novizen in ungefärbtem Hanfgewand ...
    ... aber heute Morgen lässt der wachhabende Novize die übliche Vorsicht walten. Orito sieht nur die geschlossenen Außentore und zwei Novizen, die auf Handkarren die Lebensmittel für den heutigen Tag bringen.
    Schwester Sawarabi kommt aus dem Empfangsraum geschossen. «Novize Chūai! Novize Maboroshi! Hoffentlich sind Euch bei dem Schnee nicht die Knochen eingefroren. Meister Genmu ist wirklich grausam, dass er seine jungen Hengste zu Skeletten abmagern lässt.»
    «Wir finden immer etwas, woran wir uns wärmen können, Neunte Schwester», schäkert Maboroshi.
    «Ach, wie konnte ich das nur vergessen!» Sawarabi streicht sich mit den Fingerspitzen über die Brust. «Beliefert uns in dieser Woche nicht Jiritsu, der schamlose Langschläfer?»
    «Der Novize», Maboroshi wird plötzlich ernst, «ist krank geworden.»
    «Ach, herrje! Krank, sagt Ihr? Schlimmer als ... ein harmloser Winterschnupfen?»
    «Sein Zustand», Maboroshi und Chūai machen sich daran, die Vorräte in die Küche zu tragen, «scheint ernst zu sein.»
    «Das Leben des armen Novizen Jiritsu», Schwester Hotaru mit der Lippenspalte tritt aus dem Empfangsraum, «ist hoffentlich nicht bedroht?»
    «Sein Zustand ist ernst», erwidert Maboroshi knapp. «Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.»
    «Nun, die Jüngste Schwester war in ihrem früheren Leben die Tochter eines berühmten Arztes, und Meister Suzaku täte sicher gut daran, sie herbeizuholen. Sie würde seinem Ruf liebend gerne Folge leisten, denn ...», Sawarabi legt die Hand an den Mund und ruft über den Innenhof zu Oritos Versteck, «... sie kann es kaum erwarten, das Terrain zu sichten, um ihre Flucht vorzubereiten, ist es nicht so, Schwester Orito?»
    Die enttarnte Beobachterin errötet und eilt mit Tränen in den Augen zurück in ihre Zelle.

    Bis auf Yayoi, Äbtissin Izu und Hausmutter Satsuki knien alle Schwestern an dem niedrigen Tisch im Langen Raum.

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