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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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aus. Die blinde Schwester Minori bringt Sadaie bei, auf dem Koto Acht Ri über einen Bergpass zu spielen. Auch Hashihime und Kagerō spazieren durch die Wandelgänge, aber in entgegengesetzter Richtung. Orito muss zur Seite treten, als sie ihnen begegnet. Zum tausendsten Mal seit ihrer Entführung wünscht sie sich, sie hätte Pinsel und Papier. Sie weiß, dass Briefe an die Untere Welt genehmigt werden müssen, und sie würde ohnehin alles verbrennen, was sie geschrieben hat, aus Furcht, dass man ihre Gedanken entdeckt. Aber ein Schreibpinsel , denkt sie, ist für den Geist eines Gefangenen wie ein Zellenschlüssel. Äbtissin Izu hat ihr ein Schreibset versprochen, wenn entschieden ist, wann sie ihre erste Gabe empfangen wird.
    Wie soll ich das ertragen , denkt Orito schaudernd, und anschließend weiterleben?
    Als sie um die Ecke biegt, ist der Kahle Gipfel nicht mehr rosa, sondern grau.
    Sie denkt an die zwölf Frauen im Haus, die es willig ertragen.
    Dann an die letzte Jüngste Schwester, die sich erhängt hat.
    «Die Venus», so hat Oritos Vater einmal erzählt, «umkreist die Sonne im Uhrzeigersinn. Alle ihre Brüder und Schwestern umkreisen die Sonne gegen den Uhrzeigersinn ...»
    ... aber die Erinnerung an ihren Vater wird von höhnischen «Wenns» vertrieben.
    Umegae, Hashihime und Kagerō bilden eine schlurfende Front aus wattierten Kimonos.
    Wenn Enomoto mich nie gesehen oder sich nie entschieden hätte, mich in seine Sammlung aufzunehmen ...
    Orito hört Hackgeräusche aus der Küche.
    Wenn Stiefmutter so mitfühlend wäre, wie sie früher vorgegeben hat ...
    Orito muss sich an die Schiebewand drücken, um die drei vorbeizulassen.
    Wenn Enomoto bei den Geldverleihern nicht für Vaters Darlehen gebürgt hätte ...
    «Einige von uns», bemerkt Kagerō, «sind so vornehm, die glauben, Reis wächst auf Bäumen.»
    Oder wenn Jacob de Zoet gewusst hätte, dass ich an meinem letzten Tag in Nagasaki an der Landpforte gewesen bin ...
    Die drei Frauen gehen vorbei, ihre Kimonos rascheln über die Holzplanken.
    Gänse ziehen über den Himmel wie ein niederländisches V, ein Waldaffe kreischt.
    Lieber eine Dejima-Ehefrau sein , denkt Orito, die vom Geld eines Ausländers beschützt wird , ...
    In der alten Pinie singt ein Gebirgsvogel ein Lied wie feinste Stickerei.
    ...als zu ertragen, was man mir in der Woche der Gaben antun wird, wenn mir nicht die Flucht gelingt.
    Der Bach plätschert unter dem erhöhten Wandelgang hervor, fließt durch den Teich und verschwindet unter dem Wandelgang gegenüber. Orito drückt sich enger an die Schiebewand. «Die glaubt wohl», sagt Hashihime, «dass eine Zauberwolke sie davonträgt ...»
    Sterne bestäuben die Ufer des Himmelsflusses, keimen und treiben aus.
    Europäer , erinnert sich Orito, nennen es «die Milchstraße». Die sanfte Stimme ihres Vaters kehrt zurück. «Das ist Umihebi, die Wasserschlange, und dort Tokei, die Pendeluhr; und hier drüben siehst du Ite, den Schützen ...» Sie atmet seinen warmen Geruch ein. «... und das dort oben ist Ranshinban, der Schiffskompass ...»
    Der Riegel des inneren Tores wird quietschend gelöst. «Öffnen!»
    Alle Schwestern hören es. Alle Schwestern denken: Meister Suzaku.
    Bis auf Sadaie und Asagao, die das Abendessen zubereiten, haben sich alle Schwestern im Langen Raum versammelt. Alle tragen ihre besten Gewänder, mit Ausnahme von Orito, die nur den Arbeitskimono, in dem sie entführt wurde, eine warme, gesteppte Hakata-Jacke und ein paar Kopftücher besitzt. Sogar Schwestern von niederem Rang wie Yayoi nennen bereits zwei oder drei gute Kimonos ihr eigen - einen für jedes geborene Kind - und dazu ein paar schlichte Halsketten und Bambushaarkämme. Ältere Schwestern wie Hatsune und Hashihime haben sich im Lauf der Jahre eine Garderobe erworben, die umfangreicher ist als die einer reichen Kaufmannsgattin.
    Das Verlangen nach dem Trost schlägt jetzt unablässig auf sie ein, doch Orito muss am längsten warten: Die Schwestern werden streng nach Rangordnung und einzeln in den Gleichseitigen Raum gerufen, wo Suzaku seine Sprechstunde abhält und seine Mixturen ausgibt. Er nimmt sich für jede Patientin zwei bis drei Minuten Zeit: Für manche Schwestern bergen die minuziösen Beschreibungen ihrer Leiden und die Gedanken des Meisters zu selbigen einen Zauber, der nur noch von den Neujahrsbriefen übertroffen wird. Als Erste kommt Schwester Hatsune aus der Sprechstunde zurück, mit der Neuigkeit, dass das Fieber vom Novizen Jiritsu

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