Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
sich verschlimmert hat und dass Meister Suzaku daran zweifelt, dass er die Nacht überstehen wird.
Die meisten Schwestern reagieren mit Bestürzung und Entsetzen.
«Unsere Meister und Novizen», ruft Hatsune, «sind so selten krank ...»
Orito ertappt sich bei der Frage, welche fiebersenkenden Mittel Jiritsu wohl verabreicht wurden, aber dann denkt sie: Das geht mich nichts an.
Die Frauen tauschen in der Vergangenheitsform Erinnerungen an Jiritsu aus.
Rascher als erwartet berührt Yayoi sie an der Schulter. «Du bist dran.»
«Wie geht es der Jüngsten Schwester heute Abend?» Meister Suzaku macht immer ein Gesicht, als würde er gleich lachen, was er aber nie tut. Die Wirkung ist unheimlich. Äbtissin Izu sitzt in einer Ecke, ein Novize sitzt ihr gegenüber.
Orito gibt die übliche Antwort. «Ich lebe noch, wie Ihr seht.»
«Kennst du» - Suzaku zeigt auf den jungen Mann - «den Novizen Chūai?»
Kagerō und andere boshafte Schwestern haben Chūai den Spitznamen «Aufgeblasene Kröte» verpasst.
Orito sieht den Novizen nicht an. «Ganz gewiss nicht.»
«Der erste Schnee», Suzaku schnalzt mit der Zunge, «zehrt nicht an unserer Verfassung?»
Erbitte das Trost nicht. Sie antwortet: «Nein.» Er genießt es, wenn du bettelst.
«Dann gibt es also von keinen Beschwerden zu berichten? Keine Schmerzen oder Blutungen?»
Für ihn , vermutet sie, ist die Welt nur ein riesengroßer Scherz. «Nichts.»
«Verstopfung? Durchfall? Hämorrhoiden? Soor? Migräne?»
«Das Einzige, woran ich leide», schleudert Orito ihm entgegen, «ist die Gefangenschaft.»
Suzaku blickt lächelnd hinüber zum Novizen Chūai und der Äbtissin. «Unsere Bindungen an die Untere Welt schneiden sich in uns ein wie Draht. Durchtrenne sie, und du wirst so glücklich sein wie deine lieben Schwestern.»
«Meine ‹lieben Schwestern› wurden aus Bordellen und von Jahrmärkten gerettet, und möglicherweise führen sie hier ein besseres Leben. Ich aber habe mehr verloren, und Enomoto» - Äbtissin Izu und Novize Chūai zucken zusammen, als sie hören, mit welcher Verachtung Orito den Namen ihres Abtes ausspricht - «ist mir nicht ein einziges Mal gegenübergetreten, seit er mich gekauft hat: Und spart Euch» - Orito beherrscht sich, um nicht mit dem Finger auf Suzaku zu zeigen wie ein zorniger Niederländer - «Eure Platituden über Schicksal und göttliches Gleichgewicht. Gebt mir einfach mein Trost. Bitte. Die Frauen wollen zu Abend essen.»
«Der Jüngsten Schwester steht es wohl kaum zu», setzt die Äbtissin an, «in diesem Ton mit -»
Suzaku unterbricht sie mit einer ehrerbietigen Handbewegung. «Wir wollen ein wenig Nachsicht üben, Äbtissin, auch wenn sie es nicht verdient. Aufsässigkeit lässt sich meistens am besten durch Güte zähmen.» Der Mönch gießt eine schlammige Flüssigkeit in ein fingerhutgroßes steinernes Gefäß.
Wie behutsam er sich bewegt , denkt Orito, um dein Verlangen noch zu steigern ...
Orito beherrscht sich und nimmt den Becher langsam von dem dargebotenen Tablett.
Sie wendet sich ab und trinkt hinter vorgehaltenem Ärmel.
«Wenn du erst einmal beschenkt wurdest», verspricht Suzaku, «wächst auch das Gefühl, dass du hierhergehörst ...»
Niemals , denkt Orito, niemals. Ihre Zunge schmeckt die ölige Flüssigkeit ...
... ihr Blut pulsiert, die Arterien weiten sich, und eine wohlige Taubheit legt sich über ihre schmerzenden Gelenke.
«Die Göttin hat nicht dich erwählt», sagt Äbtissin Izu. «Du hast die Göttin erwählt.»
Warme Schneeflocken landen auf Oritos Haut und schmelzen zart flüsternd.
Jeden Abend nimmt die Arzttochter sich vor, Suzaku nach der Zusammensetzung des Trosts zu fragen. Jeden Abend hält sie sich zurück. Sie weiß, dass die Frage zu einem Gespräch führen würde, und ein Gespräch wäre der erste Schritt in die Fügsamkeit ...
«Was für den Körper gut ist», sagt Suzaku zu Orito, «ist auch gut für die Seele.»
Verglichen mit dem Frühstück ist das Abendessen ein festlicher Anlass. Nach einem kurzen Segensspruch essen Hausmutter Satsuki und die Schwestern in Sesam gewendeten Tofu in Tempurateig mit gebratenem Knoblauch, eingelegte Auberginen, Sardinen und weißen Reis. Selbst die hochmütigsten Schwestern denken an ihre gewöhnliche Herkunft zurück, als sie nur davon träumen konnten, jeden Tag so gut zu speisen, und sie genießen jeden Bissen. Die Äbtissin und Meister Suzaku sind zum Essen zu Meister Genmu gegangen, und so herrscht im Langen Raum
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