Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Die Tür zum Gebetsraum mit der vergoldeten Figur der schwangeren Göttin ist offen. Die Göttin beobachtet die Schwestern über Äbtissin Izu hinweg, die den röhrenförmigen Gong schlägt. Das Sutra der Dankbarkeit beginnt.
«Für Abt Enomoto-no-kami», sprechen die Frauen im Chor, «unser geistliches Oberhaupt ...»
Orito stellt sich vor, wie sie dem berühmten Kollegen ihres verstorbenen Vaters ins Gesicht spuckt.
«... dessen Klugheit den Schrein auf dem Shiranui lenkt ...» Äbtissin Izu und Hausmutter Satsuki bemerken, dass Orito die Lippen nicht bewegt.
«... wir, die Töchter Izanazōs, erweisen ihm die Dankbarkeit des gestillten Kindes.»
Es ist ein passiver, sinnloser Protest, aber Oritos einzige Möglichkeit, ihren Widerstand zu zeigen.
«Für Abt Genmu-no-kami, dessen Weisheit das Haus der Schwestern beschützt ...»
Orito starrt Hausmutter Satsuki durchdringend an. Die Hausmutter wendet verlegen den Blick ab.
«... wir, die Töchter Izanazōs, erweisen ihm die Dankbarkeit der gerecht Beherrschten.»
Orito starrt Äbtissin Izu an, die ihren Ungehorsam gütig in sich aufnimmt.
«Für die Göttin des Shiranui, Quelle des Lebens und Mutter der Gaben ...»
Orito blickt über die Köpfe der Schwestern hinweg zu den aufgehängten Rollbildern.
«... wir, die Shiranui-Schwestern, erweisen ihr die Früchte unseres Leibes ...»
Darauf sind jahreszeitliche Szenen und Zitate aus Shintō-Schriften zu sehen.
«... damit Fruchtbarkeit auf Kyōga fällt und Hunger und Durst vertrieben werden ...»
In der Mitte ist die Rangfolge der Schwestern dargestellt, aufsteigend nach der Zahl der Geburten.
Wie in einem Sumō-Stall , denkt Orito angewidert.
«... damit das Rad des Lebens sich dreht bis in die Ewigkeit ...»
Die Holztafel mit Oritos Namen hängt rechts außen.
«... bis der letzte Stern verlischt und das Rad der Zeit gebrochen ist.»
Äbtissin Izu schlägt den Gong, das Zeichen, dass das Sutra beendet ist.
Hausmutter Satsuki schließt die Tür zum Gebetsraum, während Asagao und Sadaie aus der angrenzenden Küche Reis und Misosuppe holen.
Als die Äbtissin den Gong erneut schlägt, beginnen die Schwestern mit dem Frühstück.
Gespräche und Blickkontakt sind verboten, aber Freundinnen schenken sich gegenseitig Wasser ein.
Vierzehn Münder - Yayoi ist für heute entschuldigt - kauen, schlürfen und schlucken.
Was für feine Speisen Stiefmutter wohl heute zu sich nimmt? Hass lodert in Orito.
Jede Schwester lässt ein paar Reiskörner für die Geister ihrer Ahnen übrig.
Orito folgt ihrem Beispiel, aus der nüchternen Überlegung heraus, dass sie an diesem Ort so viele Verbündete wie möglich braucht.
Mit einem weiteren Gongschlag zeigt Äbtissin Izu das Ende der Mahlzeit an. Als Sadaie und Asagao das Geschirr abräumen, erkundigt sich die rosaäugige Hashihime bei der Äbtissin nach dem Novizen Jiritsu.
«Er wird in seiner Zelle gepflegt», antwortet die Äbtissin. «Er hat das Schüttelfieber.»
Mehrere Schwestern schlagen die Hände vor den Mund und raunen betroffene Worte.
Warum so viel Mitleid , brennt es Orito auf der Zunge, mit einem eurer Entführer?
«Ein Lastenträger in Kurozane ist daran gestorben: Vielleicht hat der arme Jiritsu dieselben Dämpfe eingeatmet. Meister Suzaku hat uns angehalten, für seine Genesung zu beten.»
Die meisten Schwestern nicken ernsthaft und versprechen es.
Dann verteilt Äbtissin Izu die Haushaltsaufgaben für den Tag. «Schwester Hatsune und Schwester Hashihime fahren mit der gestrigen Webarbeit fort. Schwester Kiritsubo fegt die Wandelgänge, und Schwester Umegae wird mit den Schwestern Minori und Yūgiri den Flachs im Vorratsraum zu Zwirn winden. In der Stunde des Pferdes geht ihr zum Großen Schrein und putzt die Fußböden. Schwester Yūgiri ist, wenn sie möchte, wegen ihrer Gabe entschuldigt.»
Missgestaltete Gedanken , denkt Orito, gekleidet in hässliche, verdrehte Worte.
Alle Blicke im Raum sind auf Orito gerichtet. Sie hat schon wieder laut gedacht.
«Die Schwestern Hotaru und Sawarabi», fährt die Äbtissin fort, «stauben den Gebetsraum ab und kümmern sich dann um die Latrinen. Schwester Asagao und Schwester Sadaie haben bekanntlich heute Küchendienst, also sind Schwester Kagerō und unsere Jüngste Schwester ...», die Augen der besonders Hämischen richten sich auf Orito und sagen: Seht nur die feine Dame! Muss arbeiten wie ihre einstigen Diener! , «... arbeiten heute im Waschhaus. Wenn Schwester Yayoi sich besser fühlt,
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