Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Vorstenbosch.»
Die Lampe fängt heftig an zu schaukeln; die Flamme rußt, zuckt und erholt sich wieder.
Im Unterdeck stimmt ein Matrose seine Fiedel.
«Glauben Sie etwa», Vorstenbosch sieht Snitker scharf an, «ich und meine Ehrenhaftigkeit seien käuflich? Wie ein syphiliszerfressener Hafenmeister auf der Schelde, der von den Butterkähnen illegale Abgaben erpresst?»
«Dann von mir aus ein Neuntel», knurrt Snitker. «Aber ich schwöre, das ist mein letztes Angebot.»
«Ergänzen Sie die Anklageliste» - Vorstenbosch wendet sich mit einem Fingerschnipsen an seinen Sekretär - «um ‹Versuchte Bestechung eines Finanzprüfers›, und dann schreiten wir zur Urteilsverkündung. Sehen Sie mich an, Snitker: Das betrifft Sie. ‹Punkt eins: Daniel Snitker wird hiermit seines Amtes enthoben, und ihm wird jede› - ja, jede - ‹Vergütung abgesprochen, und zwar rückwirkend bis 1797. Zweitens: Nach Ankunft in Batavia wird Daniel Snitker im Alten Fort inhaftiert, wo er für seine Taten Rechenschaft ablegen wird. Drittens: Sein privates Frachtgut wird versteigert. Der Erlös fließt der Kompanie zu.› Wie ich sehe, sind Sie ganz Ohr.»
«Sie» - Snitkers Trotz ist dahin - «machen einen armen Mann aus mir!»
«Dieser Prozess soll ein abschreckendes Beispiel für jeden schmarotzerischen Faktor sein, der sich am Busen der Kompanie nährt: ‹Daniel Snitker ist Gerechtigkeit geschehen› so lautet die Warnung dieses Urteils, ‹und Gerechtigkeit wird auch dich ereilen.› Kapitän Lacy, ich danke Ihnen, dass Sie bei dieser unerfreulichen Angelegenheit mitgewirkt haben: Herr Wiskerke, bitte weisen Sie Herrn Snitker eine Hängematte auf dem Vorderdeck zu. Er wird sich die Rückreise nach Java wie eine Landratte verdienen und sich der allgemeinen Disziplin fügen. Außerdem ...»
Snitker stößt den Tisch um und stürzt sich auf Vorstenbosch. Jacob sieht Snitkers Faust über dem Kopf seines Mentors aufblitzen und schreitet ein: Flammende Pfauen tanzen vor seinen Augen, die Kajütenwände drehen sich um neunzig Grad, der Fußboden schlägt an seine Rippen, und der metallische Geschmack in seinem Mund stammt ganz gewiss von Blut. Über ihm wird gegrunzt, geächzt und schmerzvoll gestöhnt. Als Jacob aufblickt, landet der Erste Offizier einen Schlag in Snitkers Magengrube, so heftig, dass der niedergestreckte Sekretär vor Mitgefühl unweigerlich zusammenzuckt. Zwei weitere Seeleute stürmen in die Kajüte, als Snitker wankend zu Boden geht.
Unterdecks spielt der Geiger Mein schwarzäugiges Mädchen aus Twente .
Kapitän Lacy schenkt sich ein Glas Johannisbeerwhisky ein.
Vorstenbosch bearbeitet Snitkers Gesicht mit dem Silberknauf seines Stockes, bis er erschöpft von ihm ablässt. «Legt den Engerling in Eisen, und dann ab mit ihm in die schmutzigste Ecke auf dem Kojendeck.» Der Erste Offizier und die beiden Matrosen schleifen den stöhnenden Snitker hinaus. Vorstenbosch kniet neben Jacob und klopft ihm auf die Schulter. «Danke, dass Sie den Schlag abgefangen haben, mein Junge. Ich fürchte, Ihre Birne ist ganz schön Matsch ...»
Der Schmerz in Jacobs Nase lässt auf einen Bruch schließen, aber die Schmiere an seinen Händen und Knien ist kein Blut. Tinte, erkennt der Sekretär, als er sich mühsam aufrappelt.
Tinte, aus dem zerbrochenen Tintenfass, indigoblaue Bäche und tröpfelnde Deltas ...
Tinte, aufgesogen von durstigem Holz und in die Ritzen sickernd ...
Tinte , denkt Jacob, du fruchtbarste aller Flüssigkeiten ...
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III
Auf einem Sampan, festgemacht neben der Shenandoah , Hafen von Nagasaki
Am Morgen des 26. Juli 1799
Jacob de Zoet, ohne Hut und unter dem blauen Frack schweißgebadet, ist in Gedanken bei dem Tag vor zehn Monaten, als die rachgierige Nordsee gegen die Deiche von Domburg stürmte und die Gischt durch die Kerkstraat schwappte, vorbei am Pfarrhaus, wo sein Onkel ihm eine geölte Segeltuchtasche überreichte. Darin befand sich ein abgewetzter, in Hirschleder gebundener Psalter, und Jacob kann die Rede seines Onkels mehr oder minder aus dem Gedächtnis wiedergeben. «Du hast die Geschichte dieses Buches weiß Gott oft genug gehört, Neffe. Dein Ururgroßvater war in Venedig, als dort die Pest ausbrach. Froschgroße Beulen bedeckten seinen Leib, aber er betete aus diesem Psalter, und Gott heilte ihn. Vor fünfzig Jahren diente dein Großvater Tys in der Pfalz, als sein Regiment aus dem Hinterhalt überfallen wurde. Der Psalter bewahrte ihn davor, dass diese Musketenkugel» -
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