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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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blickt über das Gemüsebeet. Im Dämmerlicht entdeckt er eine Gestalt. Sie beobachtet ihn aus dem Bambushain. Uzaemon kneift die Augen zusammen. Otane, die Kräuterheilerin? Sie trägt die gleiche schwarze Kapuze und die gleiche Bergkleidung. Es wäre möglich. Ihr Rücken ist ebenso gebeugt. Ja. Uzaemon hebt behutsam die Hand, aber die Gestalt schüttelt langsam und traurig den weißhaarigen Kopf und dreht sich um.
    «Nein», sie darf sich nicht zu erkennen geben? Oder «nein», die Rettung ist zum Scheitern verurteilt?
    Der Dolmetscher tritt auf die Veranda, schlüpft in ein Paar Strohsandalen und eilt durch das zerfurchte Beet. Ein Pfad aus schwarzem Schlamm und weißem Frost schlängelt sich über den Bambushain.
    Auf dem Platz vor der Herberge kräht der Hahn.
    Shuzai und die anderen , denkt er, werden mich vermissen.
    Strohschuhe bieten den zarten Füßen eines geistig arbeitenden Samurai wenig Schutz.
    Vor ihm, auf einem abgebrochenen Bambusrohr, sitzt ein Seidenschwanz: Er öffnet den Schnabel ...
    ... speit Uzaemon mit vibrierender Kehle ein unmelodisches Lied entgegen und fliegt davon ...
    Von Ast zu Ast hüpft er in kleinen Bögen durch den dichten Hain.
    Uzaemon folgt ihm durch das schräge Gitter aus hellem und dunklem Schwarz ...
    ... immer tiefer hinein in die erdrückende Enge; die dünne Eisschicht bricht unter seinen Füßen.
    Der Seidenschwanz lockt ihn vorwärts. Oder zur Seite?
    Oder sind es zwei Seidenschwänze , fragt sich Uzaemon, die ihre Späße mit mir treiben?
    «Ist da jemand?» Er wagt es nicht, die Stimme zu erheben. «Otane-sama?»
    Die Bambusblätter rascheln wie Papier. Der Weg endet an einem rauschenden Fluss, braun und dick wie niederländischer Tee.
    Am anderen Ufer erhebt sich unter gespreizten Ästen und knorrigen Wurzeln eine zerklüftete Felswand.
    Ein Zeh des Shiranui , denkt Uzaemon. Und auf seinem Kopf erwacht Orito aus dem Schlaf
    Flussaufwärts oder flussabwärts ruft ein Mann in einem buckligen Dialekt.
     
    Der Weg zurück zur Herberge führt Uzaemon an eine verborgene Lichtung. Auf einem Bett aus dunklen Kieseln stehen, umgeben von einer kniehohen Steinmauer, Dutzende kopfgroße, vom Meerwasser glattgeschliffene Steine. Es gibt keinen Schrein, kein Torī-Tor, keine mit Papierschnipseln behängten Strohseile, und so dauert es einen Augenblick, bis der Dolmetscher begreift, dass er sich auf einem Friedhof befindet. Er steigt fröstelnd über die Mauer, um sich die Grabsteine genauer anzusehen. Der Kies knirscht und gibt unter seinen Füßen nach.
    Nicht Namen, sondern Nummern sind in die Steine gemeißelt: bis zur Zahl einundachtzig.
    Der wuchernde Bambus ist zurückgeschnitten, und die Steine sind von Flechten befreit.
    Uzaemon überlegt, ob die Frau, die er für Otane gehalten hat, die Friedhofswärterin ist.
    Vielleicht hat sie es mit der Angst zu tun bekommen, denkt er, als sich ein Samurai ihr näherte.
    Aber welche buddhistische Sekte verweigert den Verstorbenen sogar einen Totennamen auf dem Grabstein? Jedes Kind weiß doch, dass eine Seele, die keinen Namen für König Enmas Verzeichnis der Toten besitzt, am Tor zur Nächsten Welt abgewiesen wird. Die Geister der Namenlosen irren für immer umher. Uzaemon vermutet, dass es sich bei den Beerdigten um Fehlgeburten, Verbrecher oder Selbstmörder handelt, aber diese Erklärung stellt ihn nicht zufrieden. Selbst Unberührbare werden mit einem Namen beerdigt.
    Im Käfig des Winters, fällt ihm auf, gibt es keinen Vogelgesang.

    «Bestimmt haben Sie die Köhlerstochter gesehen», sagt der Wirt in der Herberge zu Uzaemon. «Sie wohnt in einer morschen Kate hinter den Zwölf Feldern, zusammen mit ihrem Vater, ihrem Bruder und einer Million Stare. Stromert ständig durch die Gegend, meistens unten am Fluss. Schwerfällig und nicht ganz richtig im Kopf, das Mädchen. Zwei- oder dreimal hat sie was Kleines erwartet, aber die haben nie Wurzeln gefasst, weil der Papa ihr eigener Papa war oder ihr Bruder, und sie wird allein in der morschen Kate sterben, denn welche Familie will schon, dass ihr Blut von so viel Unreinheit geschwächt wird?»
    «Aber ich habe kein Mädchen gesehen, sondern eine alte Frau.»
    «Bei uns in Kyōga haben die Stuten breitere Hüften als die Prinzessinnen in Nagasaki: Ein dreizehn-, vierzehnjähriges Mädchen geht hier leicht als ’ne alte Mähre durch, besonders in der Dämmerung ...»
    Uzaemon hat seine Zweifel. «Und was ist mit dem geheimen Friedhof?»
    «Ach, da ist nichts Geheimes dran: Im

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