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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Herbergsgewerbe nennen wir ihn das ‹Quartier für Dauergäste›. Viele Reisende werden unterwegs krank, besonders auf Pilgerwegen, und schlafen in Herbergen ihren letzten Schlaf. Das kostet uns Wirte ein Vermögen, und Vermögen heißt Vermögen: Wir können die Toten ja schlecht am Straßenrand ablegen. Was ist, wenn ein Verwandter vorbeikommt? Was ist, wenn sein Geist die Gäste verscheucht? Aber eine anständige Beerdigung kostet Geld, so wie überall auf der Welt: Geld für Priester und Gesänge, ein hübsches Grab vom Steinmetz und für einen Flecken Erde im Tempel ...» Der Wirt schüttelt den Kopf. «Also hat einer meiner Vorfahren für die Gäste, die im Harubayashi entschlafen, den Friedhof im Wäldchen angelegt. Wir führen eine Liste mit den Gästen, die dort liegen, und wir nummerieren die Steine, und die Namen von den Gästen schreiben wir auch auf, wenn sie einen genannt haben, und ob’s ein Mann ist oder ’ne Frau und das ungefähre Alter und was weiß ich nicht alles. Falls mal irgendein Verwandter vorbeikommt, können wir vielleicht behilflich sein.»
    Shuzai fragt: «Kommt es häufig vor, dass Angehörige nach verstorbenen Gästen fragen?»
    «Noch nie, seit ich hier Wirt bin; aber wir tun’s trotzdem. Meine Frau putzt die Steine an jedem Obon-Fest.»
    «Wer wurde zuletzt dort beigesetzt?», fragt Uzaemon.
    Der Gastwirt schürzt die Lippen. «Jetzt, wo die Omura-Straße so viel besser ist, kommen nicht mehr so viele Alleinreisende durch Kyōga ... Der letzte war ein Drucker, drei Jahre ist das her: Ging kerngesund ins Bett, und am nächsten Morgen war er kalt wie Stein. Gibt einem zu denken, was?»
    Uzaemon ist über den Ton des Wirts verstimmt. «Was gibt Ihnen das zu denken?»
    «Es sind nicht nur die Alten und Schwachen, die der Tod in seine schwarze Sänfte zieht ...»

    Die Kyōga-Straße führt vom schlammigen Ufer des Ariake-Meeres landeinwärts durch einen Wald. Hane, einer der Söldner, lässt sich zurückfallen, während sein Kollege Ishi vorausläuft. «Nur eine Vorsichtsmaßnahme», sagt Shuzai aus der Sänfte, «um sicherzugehen, dass uns niemand gefolgt ist oder uns weiter vorne auflauert.» Ein paar Biegungen weiter aufwärts überqueren sie den Mekura und nehmen einen laubbedeckten Weg, der hinauf zum Eingang der Schlucht führt. Bei einem moosbewachsenen Torī-Tor fordert eine Anschlagtafel vorbeikommende Wanderer auf umzukehren. Die Sänfte wird abgesetzt, die Waffen werden aus dem doppelten Boden geholt, und vor Uzaemons Augen verwandeln sich Deguchi aus Osaka und seine leidgeprüften Diener in Söldner. Shuzai stößt einen scharfen Pfiff aus. Uzaemon hört nichts - nur das Knacken eines Zweiges -, aber die Männer vernehmen ein Signal, dass die Luft rein ist. Sie laufen mit der leeren Sänfte bergan um enge Kurven. Der Dolmetscher ist schnell außer Atem. Das Dröhnen eines Wasserfalls wird lauter, und bei einem Steinschlag jüngeren Datums gelangen sie zum unteren Eingang der Mekura-Klamm: eine etwa neun Mann hohe, in den Steilhang gehauene Treppe, überwuchert von langzüngigen Farnen und einem dichten Rankennetz. Aus den vorspringenden Felsen stürzt der kalte Strom hinab und ergießt sich in einen schäumenden, brodelnden Teich.
    Uzaemon starrt gebannt auf die ewig stürzenden Wassermassen ...
    Sie trinkt aus diesem Fluss , denkt er, wo er noch ein Gebirgsbach ist.
    ... bis in einer Wand aus wilden Kamelien eine Drossel pfeift. Shuzai pfeift zurück. Die Blätter teilen sich, und fünf Männer kommen zum Vorschein. Sie sind gekleidet wie gemeine Leute, aber ihre Gesichtszüge haben dieselbe militärische Härte wie die der anderen herrenlosen Samurai. «Lasst uns die Kiste», Shuzai zeigt auf die angeschlagene Sänfte, «aus dem Weg schaffen.»
    Während sie die Sänfte in einer Senke hinter den Kamelien mit Zweigen und Blättern abdecken, stellt Shuzai die Neuankömmlinge mit ihren Decknamen vor: Tsuru, der mondgesichtige Anführer, Yagi, Kenka, Muguchi und Bara; Uzaemon, der immer noch seine Pilgerkleidung trägt, bekommt den Namen Junrei. Die Neuen behandeln ihn mit zurückhaltendem Respekt, aber es ist unverkennbar, dass für sie Shuzai der Anführer ist. Ob sie Uzaemon für einen vernarrten Tölpel oder einen Ehrenmann halten - vielleicht , denkt Uzaemon, schließt das eine das andere nicht aus -, ist nicht zu ergründen. Der Samurai namens Tanuki liefert einen kurzen Bericht ihrer Reise von Saga nach Kurozane, und der Dolmetscher denkt an die Ereignisse, die

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