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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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mit der wir das Spiel zu unseren Gunsten wenden können.»
    «Meine Waffe», Jacob nimmt den Psalter aus der Brusttasche, «ist mein Glaube.»
    Eingehüllt in seinen Paletot, untersucht Marinus das alte dicke Buch und befühlt das Einschussloch mit der Musketenkugel. «Für wessen Herz war sie bestimmt?»
    «Für das meines Urgroßvaters, aber das Buch befindet sich schon seit Calvins Zeiten in Familienbesitz.»
    Marinus liest das Deckblatt. «Psalmen? Domburger, Sie sind eine wandelnde Wunderkammer! Wie haben Sie diesen Klappersack voll holperiger Übersetzungen aus dem Aramäischen an Land geschmuggelt?»
    «Ogawa Uzaemon hat im entscheidenden Augenblick weggeschaut.»
    «‹... der du den Königen Sieg gibst›», liest Marinus, «‹und erlösest deinen Knecht David von mörderischen Schwertern.›»
    Der Wind trägt die Befehle heran, die auf der Phoebus weitergegeben werden.
    Auf dem Edo-Platz brüllt ein Offizier seine Soldaten an: Sie antworten im Chor.
    Hinter ihnen flattert die niederländische Fahne.
    «Das dreifarbige Tischtuch da würde nicht für Sie sterben, Domburger.»
    Die Phoebus hält auf Dejima zu: Sie ist schön, geschmeidig, unheilvoll.
    «Niemand stirbt für eine Fahne, sondern für das, wofür sie steht.»
    «Ich bin gespannt zu hören, wofür Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen.» Marinus steckt die Hände in den ausgefallenen Paletot. «Dass der englische Kapitän Sie als Krämer tituliert hat, kann doch nicht der einzige Grund sein.»
    «Soweit wir wissen, ist dies die letzte niederländische Fahne auf der Welt.»
    «Soweit wir wissen, ja. Aber deshalb würde sie noch lange nicht für Sie sterben.»
    «Er ...» Jacob sieht, dass der englische Kapitän sie durch sein Fernrohr beobachtet, «... hält uns Niederländer für Feiglinge. Jede Macht in unserer rauflustigen Nachbarschaft hat bereits versucht, unsere Nation auszulöschen, angefangen mit den Spaniern. Alle sind gescheitert. Nicht einmal die Nordsee konnte uns von unserem schlammigen Stück Land am Rande Europas vertreiben, und warum nicht?»
    «Darum, Domburger: Weil ihr nirgendwo anders hinkönnt!»
    «Weil wir dickköpfige Draufgänger sind, Herr Doktor.»
    «Würde Ihr Onkel wollen, dass Sie Ihre niederländische Männlichkeit beweisen, indem Sie von Dachziegeln und Mauerwerk erschlagen werden?»
    «Mein Onkel würde mit Luther sagen: Freunde zeigen uns, was wir tun können, aber Feinde zeigen uns, was wir tun müssen.»
    Jacob lenkt sich ab, indem er durch das Fernrohr die Galionsfigur der Fregatte betrachtet, die jetzt nur noch fünfhundert Meter weit entfernt ist. Der Schnitzer hat Phoebus mit teuflischer Entschlossenheit versehen. «Herr Doktor, Sie müssen jetzt gehen.»
    «Stellen Sie sich Dejima ohne de Zoet vor! Ouwehand wird Faktor, und sein Vize heißt Grote. Reichen Sie mir das Fernrohr.»
    «Grote ist unser bester Kaufmann: Er könnte Schäfern Schafsmist verkaufen.»
    William Pitt blickt hinaus zur Phoebus und schnaubt trotzig wie ein Mensch.
    Jacob zieht Kobayashis Strohmantel aus und legt ihn dem Affen um die Schultern.
    «Bitte, Herr Doktor.» Regen benetzt die Holzplanken. «Vergrößern Sie nicht die Last meiner Schuld.»
    Möwen verlassen den Dachfirst der verrammelten Dolmetscherzunft.
    «Sie sind von aller Schuld freigesprochen. Ich bin unvergänglich. Morgen - in ein paar Monaten - wache ich wieder auf und beginne ein neues Leben. Aber sehen Sie: Daniel Snitker ist auf dem Achterdeck. Sein Primatengang verrät ihn ...»
    Jacob berührt den Knick in seiner Nase, Ist das erst im vergangenen Jahr gewesen?
    Der Kommandant der Phoebus brüllt Befehle. Die Matrosen in den Rahen reffen die Marssegel ...
    ... und das Kriegsschiff bleibt in zweihundertfünfzig Metern Entfernung stehen.
    Jacobs Angst drückt ihm auf Herz und Magen wie ein neu gewachsenes inneres Organ. Einige Matrosen brüllen durch ihre Hände: «Auf die Knie, kleiner Niederländer, auf die Knie, auf die Knie!», und zeigen Jacob höhnisch das Finger-V.
    «Warum ...», Jacobs Stimme ist angespannt und schrill, «... warum tun die Engländer das?»
    «Ich glaube, diese Geste stammt von den englischen Bogenschützen in der Schlacht von Azincourt.»
    Ein Kanonenrohr wird durch die hinterste Stückpforte geschoben, dann das nächste, bis alle zwölf Pforten bestückt sind.
    Kiebitze fliegen tief über der steinernen See; Meerwasser tropft von ihren Flügelspitzen.
    «Sie greifen tatsächlich an.» Jacob erkennt seine eigene Stimme nicht. «Marinus! Gehen

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