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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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und in allen anderen, die Sie ausgraben? Weil, so läuft das auf Dejima nun mal. Wenn Sie Schluss machen mit den vielen kleinen Vergünstigungen, ist auch auf Dejima Schluss - und winden Sie sich nicht mit ‹Das hat Herr Vorstenbosch zu entscheiden› raus.»
    «Aber es ist Herrn Vorstenboschs Entscheidung.» Jacob löst den Riegel.
    «Das ist nicht richtig.» Grote legt den Riegel wieder vor. «Das ist nicht gerecht. Erst heißt es ‹Privater Handel ruiniert die Kompanie›, dann heißt es plötzlich: ‹Ich gehöre nicht zu denen, die ihre Leute leer ausgehen lassen.› Sie können nicht ’nen vollen Weinkeller und ’ne sturzbesoffene Ehefrau haben.»
    «Wenn Sie Ihre Geschäfte ehrlich führen», sagt Jacob, «geraten Sie auch nicht in Bedrängnis.»
    «Wenn ich meine Geschäfte ehrlich führe, sind Kartoffelschalen meine Ausbeute.»
    «Ich habe die Vorschriften der Kompanie nicht gemacht, Herr Grote.»
    «Richtig, aber Sie erledigen mit Freuden die Drecksarbeit, hä?»
    «Ich befolge nur treu meine Anweisungen. So, wenn Sie nicht Vorhaben, einen Beamten der Kompanie festzuhalten, öffnen Sie bitte die Tür.»
    «Treue sieht einfach aus», sagt Grote, «aber das ist sie nicht.»

[Menü]
    IX

    Sekretär de Zoets Unterkunft im Großen Haus

    Sonntagmorgen am 15. September 1799
     
    Jacob holt den Psalter der de Zoets unter den Dielenbrettern hervor und zieht sich in die Ecke zurück, wo er jeden Abend auf nackten Knien betet. Er drückt die Nase an den schmalen Spalt zwischen Buchrücken und Einband und atmet den muffigen Geruch des Domburger Pfarrhauses. Der Geruch weckt Erinnerungen an Januarsonntage, wenn die Domburger sich auf der Dorfstraße gegen den Sturm bis hinauf zur Kirche vorkämpften; an Ostersonntage, wenn die Sonne die käsigen Rücken der Jungen wärmte, die schuldbewusst an der Lagune faulenzten; an Herbstsonntage, wenn der Küster bei dichtem Seenebel den Kirchturm hinaufstieg, um die Glocke zu läuten; an Sonntage im kurzen zeeländischen Sommer, wenn die Hüte der neuen Saison vom Putzmacher in Middelburg eintrafen, und an einen besonderen Pfingstsonntag, als Jacob seinem Onkel gegenüber den Gedanken vorbrachte, dass die Dreieinigkeit Gottvater, Sohn und Heiliger Geist sich darin zeige, dass ein einzelner Mensch zugleich Pastor de Zoet aus Domburg und ‹Geertjes und mein Onkel› und ‹Mutters Bruder› sein könne. Die Belohnung war der einzige Kuss, den er je von seinem Onkel bekam: wortlos, achtungsvoll, hier, auf seine Stirn.
    Bitte, lass sie alle noch am Leben sein, wenn ich nach Hause komme , betet der heimwehkranke Reisende.
    Die Kompanie bekennt sich zur niederländisch-reformierten Kirche, aber sie sorgt nur wenig für das geistliche Wohl ihrer Mitarbeiter. Faktor Vorstenbosch, sein Stellvertreter van Cleef, Ivo Oost, Grote und Gerritszoon würden ihrer Treue zum niederländisch-reformierten Glauben auch auf Dejima gern Ausdruck verleihen, aber die Japaner dulden nicht einmal den Anschein gottesdienstlicher Handlungen. Kapitän Lacy gehört der Episkopalkirche an, Ponke Ouwehand ist Lutheraner, und die katholische Kirche ist durch Piet Baert und Con Twomey vertreten. Letzterer hat Jacob anvertraut, er halte jeden Sonntag eine «maßlose Messe» und er fürchte sich davor, ohne den Beistand eines Priesters zu sterben. Dr. Marinus spricht über den Schöpfer in derselben Tonart, in der er sich über Voltaire, Diderot, Herschel und gewisse schottische Ärzte auslässt: bewundernd, aber keineswegs ehrfürchtig.
    Zu welchem Gott , überlegt Jacob, betet wohl eine japanische Hebamme?
    Jacob wendet sich dem 93. Psalm zu, dem sogenannten «Sturmpsalm».
    Herr. die Wasserströme erheben sich , liest er, die Wasserströme erheben ihr Brausen ...
    Der Zeeländer stellt sich die Westerschelde zwischen Vlissingen und Breskens vor.
    ... die Wasserwogen heben empor die Wellen; die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig ...
    Der Sturm in der Bibel ist für Jacob ein Nordseesturm, der sogar die Sonne überflutet.
    ... der Herr aber ist noch größer in der Höhe.
    Jacob denkt an Annas Hände, ihre warmen Hände, ihre lebendigen Hände. Er berührt die Musketenkugel im Buchdeckel und wendet sich dem 150. Psalm zu.
    Lobet ihn mit Posaunen ... mit Psalter und Harfen.
    Die schlanken Finger und sichelförmigen Augen der Harfenistin gehören Fräulein Aibagawa.
    Lobet ihn mit Pauken und Reigen. König Davids Tänzerin hat ein Brandmal auf der Wange.

    Der hohläugige Dolmetscher Motogi

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