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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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wartet unter dem Vordach der Zunft. Er bemerkt Jacob und Hanzaburo erst, als der eingeladene Sekretär direkt vor ihm steht. «Ah! De Zoet-san ... Rufen lassen mit kleiner Warnung bringt große Unruhe, wir befürchten.»
    «Ich bin keineswegs beunruhigt», Jacob erwidert Motogis Verbeugung. «Ich fühle mich geehrt, Herr Motogi ...»
    Ein Kuli lässt eine Kiste Kampfer fallen und erntet dafür einen Tritt von einem der Kaufleute.
    «... und Herr Vorstenbosch hat mich den ganzen Vormittag lang freigestellt, falls es nötig sein sollte.»
    Motogi geleitet ihn in die Zunft, wo die Männer ihre Schuhe ausziehen.
    Dann steigt Jacob auf den kniehohen Fußboden und geht in das geräumige Hinterzimmer, in das er sich bislang nie hineingewagt hat. An Tischen, angeordnet wie in einem Klassenzimmer, sitzen sechs Männer: die Dolmetscher ersten Ranges Isohachi und Kobayashi; der pockennarbige Narazake und der charismatische, aber durchtriebene Namura aus dem zweiten Rang; Goto aus dem dritten Rang, der als Schreiber fungieren soll, sowie ein nachdenklich blickender Mann, der sich als Doktor Maeno vorstellt und Jacob dafür dankt, der Sitzung beiwohnen zu dürfen, «damit Sie mich von meinem schwachen Niederländisch heilen». Hanzaburo sitzt in der Ecke und gibt vor, alles aufmerksam zu beobachten. Kobayashi hingegen scheut keine Umstände, um zu demonstrieren, dass er wegen der Sache mit den Pfauenfedern keinen Groll gegen Jacob hegt, und stellt ihn als «Herrn Sekretär de Zoet aus Zeeland» und «großen Gelehrten» vor.
    Der große Gelehrte weist die Lobeshymne bescheiden zurück und erntet dafür Beifall.
    Motogi erläutert, dass die Dolmetscher bei ihrer Arbeit immer wieder auf Wörter stießen, deren Bedeutung unklar sei, und dass man Jacob eingeladen habe, um solche Unklarheiten zu beseitigen. Gewöhnlich leite Dr. Marinus diese nicht offiziellen Übungsstunden, aber dieser sei heute verhindert und habe Sekretär de Zoet zu seinem Vertreter ernannt.
    Jeder Dolmetscher hat eine Liste mit Ausdrücken mitgebracht, die sich dem Verständnis der Zunftmitglieder entziehen. Die Begriffe werden nacheinander vorgelesen, und Jacob erläutert sie so anschaulich wie möglich anhand von Beispielen, Synonymen und Gesten. Dann berät die Gruppe über eine angemessene japanische Entsprechung, die manchmal an Jacob erprobt wird, bis alle mit dem Ergebnis zufrieden sind. Konkrete Wörter wie «ausgetrocknet», «Fülle» oder «Salpeter» werden rasch abgehakt. Abstraktere Begriffe wie «Gleichnis», «Hirngespinst» oder «Parallaxe» erweisen sich als schwieriger. Ausdrücke ohne japanische Entsprechung, zum Beispiel «Privatsphäre», «Griesgram» oder das Verb «verdienen» benötigen zehn bis fünfzehn Minuten, und ebenso Begriffe, die besondere Fachkenntnisse voraussetzen - «Hanse», «Nervenendigung» oder «Konjunktiv». Jacob fällt auf, dass dort, wo ein niederländischer Schüler «Das verstehe ich nicht» sagen würde, die Dolmetscher die Augen niederschlagen, sodass der Lehrer bei seinen Erläuterungen stets abschätzen muss, was der Schüler wirklich verstanden hat und was nicht.
    Zwei Stunden vergehen rasch wie eine einzige, aber Jacob ist so erschöpft, als wären es vier gewesen, und er ist dankbar, als es eine kurze Pause und grünen Tee gibt. Hanzaburo stiehlt sich ohne ein Wort davon. Im zweiten Teil der Stunde fragt Narazake, worin der Unterschied zwischen «Er war in Edo» und «Er ist in Edo gewesen» besteht; Dr. Maeno möchte wissen, zu welcher Gelegenheit man «Da beißt die Maus keinen Faden ab» sagt, und Nakamura erkundigt sich nach dem Unterschied zwischen «Wenn ich sehe», «Wenn ich gesehen hätte» und «Hätte ich doch gesehen»; Jacob ist dankbar für die langweiligen Grammatikstunden seiner Schulzeit. Die letzten Fragen des Vormittags kommen von Dolmetscher Kobayashi: «Kann Sekretär de Zoet mir bitte dieses Wort erklären: ‹Konsequenzen›.»
    Jacob erläutert: «Ein Resultat, die Folgen einer Handlung. Wenn ich all mein Geld ausgebe, heißt die Konsequenz Armut. Wenn ich zu viel esse, ist eine Konsequenz» - er deutet eine Wampe an -, «dass ich dick werde.»
    Kobayashi fragt nach der Bedeutung von «am helllichten Tag». «Ich verstehe einzelne Wörter, aber Bedeutung von Ganzes ist unklar. Können wir sagen ‹Ich besuche guten Freund Herrn Tanaka an helllichten Tag›? Ich glaube, nein, vielleicht ...»
    Jacob weist auf die kriminellen Assoziationen dieser Wendung hin. «Das gilt besonders

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