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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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rumpelnd im Billardtisch. «Gesetze, die es einer Arzttochter verbieten, einen Ausländer zu heiraten?»
    «Keine rechtswirksamen Gesetze. Ich spreche von ungeschriebenen Gesetzen, an die man sich zu halten hat.»
    «Das heißt, dass Fräulein Aibagawa die Shirandō nicht besucht?»
    «Und ob, sie ist sogar die Archivarin der Akademie. Aber wie ich Ihnen bereits mehrfach erklärt habe ...», Marinus versenkt die schwierige rote Kugel, aber sein Spielball bekommt keinen Rückwärtsdrall, «... werden Frauen ihres Standes keine Dejima-Ehefrauen. Und selbst wenn sie Ihre zärtlichen Gefühle erwidern sollte: Wie groß wären ihre Aussichten auf eine standesgemäße Ehe, nachdem ein rothaariger Teufel sie befummelt hat? Wenn Sie sie wirklich lieben, sollten Sie Ihre Zuneigung dadurch ausdrücken, dass Sie ihr aus dem Weg gehen.»
    Er hat recht, denkt Jacob und fragt: «Darf ich Sie einmal in die Shirandō begleiten?»
    «Kommt nicht in Frage.» Marinus versucht, seinen und Jacobs Ball zu versenken, aber der Spielzug misslingt.
    Die unerwartete Entspannung in unserer Beziehung , erkennt Jacob, hat also doch ihre Grenzen.
    «Sie sind kein Gelehrter», erklärt der Arzt. «Und ich bin kein Kuppler.»
    «Finden Sie es richtig, die unterprivilegierten Stände dafür zu schelten, dass sie den Weibern nachstellen, rauchen und trinken ...», Jacob versenkt Marinus’ Spielball, «... und es gleichzeitig abzulehnen, an ihrer Bildung mitzuwirken?»
    «Ich bin keine ‹Gesellschaft zur Verbesserung der Menschheit›. Die Privilegien, derer ich mich erfreue, habe ich mir redlich verdient.»
    Cupido oder Philander übt ein Air auf der Gambe.
    Ziegen blöken mit einem kläffenden Hund um die Wette.
    «Sie erwähnten, dass Sie und Herr Hemmij ...», Jacob verschießt den Ball, «... um einen Einsatz spielten.»
    «Wollen Sie mich etwa dazu verleiten», spöttelt der Arzt, «am heiligen Sonntag dem Glücksspiel zu frönen?»
    «Wenn ich als Erster fünfhunderteins Punkte erreiche, gewähren Sie mir einen Besuch in der Shirandō.»
    Marinus setzt mit skeptischer Miene zum nächsten Stoß an. «Und mein Siegespreis?»
    Er weist den Vorschlag nicht sofort zurück , bemerkt Jacob. «Bestimmen Sie ihn!»
    «Sechs Stunden Arbeit in meinem Garten. Und nun reichen Sie mir den Steg.»
     
    «Um nun aber zum Sinn und Zweck Ihrer Frage zurückzukehren ...», Marinus prüft den nächsten Stoß aus allen Richtungen, «... mein Bewusstsein erwachte in einem verregneten Sommer im Jahr 1757 in einer Haarlemer Dachstube: Ich war ein sechsjähriger Junge an der Schwelle zum Tod, gepackt von einem bösartigen Fieber, das meine ganze Familie, allesamt Tuchhändler, hinweggerafft hatte.»
    Du also auch , denkt Jacob. «Das tut mir aufrichtig leid, Herr Doktor. Das konnte ich nicht ahnen.»
    «Die Welt ist ein Jammertal. Ich wurde wie Falschgeld von einem Verwandten zum nächsten gereicht, die alle darauf spekulierten, sich ein Stück vom Erbe abzuschneiden, das in Wahrheit längst von Schulden aufgefressen worden war. Meine Krankheit», er klopft auf sein lahmes Bein, «machte mich zu einer wenig Erfolg versprechenden Investition. Der letzte Verwandte, ein Großonkel von zweifelhaftem Wesen namens Cornelis, behauptete, ich hätte in einem Auge den bösen Blick und im anderen den Wahnsinn. Er brachte mich nach Leiden, wo er mich vor einem Haus an einer Gracht absetzte. Die Besitzerin, sagte er, sei praktisch meine Tante und werde mich bei sich aufnehmen. Dann verschwand er wie eine Ratte in der Kanalisation. Da mir nichts anderes übrigblieb, klingelte ich an der Türglocke. Niemand öffnete. Es war zwecklos, Großonkel Cornelis hinterherzuhumpeln, und so wartete ich auf der Türschwelle ...»
    Marinus nächster Stoß verfehlt sowohl den roten als auch Jacobs Spielball.
    «... bis ein freundlicher Schutzmann mir drohte», Marinus stürzt seinen Zitronensaft hinunter, «mich wegen Landstreicherei zu verprügeln. Ich trug die abgelegten Kleider meines Vetters, und so stießen meine Beteuerungen auf taube Ohren. Ich lief die Rapenburg auf und ab, um mich warm zu halten.» Marinus blickt über das Wasser auf die chinesische Faktorei. «Es war ein trüber, auswegloser Nachmittag, und ich war tief erschöpft. Kastanienverkäufer waren unterwegs, grobe Straßenkinder starrten mich beutewitternd an, und auf der anderen Seite der Gracht fielen die Ahornblätter wie von Frauenhand zerrissene Briefschnipsel. ... Führen Sie Ihren Stoß jetzt aus oder nicht,

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