Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
ungemein fachkundigen Botaniklehrer. Darüber hinaus gehörten zum Freundeskreis meiner Tanten einige der herausragendsten freigeistigen Gelehrten Leidens in der damaligen Zeit. So wurde meine persönliche Aufklärung ins Leben gerufen. Ich segne Großonkel Cornelis bis zum heutigen Tage dafür, dass er mich dort aussetzte.»
Jacob versenkt Marinus’ Spielball und die rote Kugel abwechselnd drei- oder viermal.
Der Same einer Pusteblume landet auf dem grünen Billardtuch.
«Gattung Taraxacum », Marinus löst ihn vom Tuch und setzt ihn hinaus ins Freie, «aus der Familie der Asteraceae. Aber Gelehrsamkeit allein füllt weder Bauch noch Geldbeutel, und meine Tanten lebten bescheiden von ihren schmalen Jahresrenten. Und so beschloss man, als ich mündig wurde, meine wissenschaftliche Neugier durch ein Studium der Medizin zu fördern. Ich bekam einen Studienplatz an der medizinischen Fakultät in Uppsala in Schweden. Natürlich war diese Wahl kein Zufall: Während meiner Knabenzeit hatte ich viele Wochen lang über der Species Plantarum und der Systema Naturæ gebrütet, und als ich nach Uppsala kam, wurde ich ein Schüler des berühmten Professor Linnæus.»
«Mein Onkel sagt», Jacob erschlägt eine Fliege, «er sei einer der größten Männer unserer Zeit gewesen.»
«Große Männer sind höchst schwierige Menschen. Es stimmt, dass Linnæus’ Taxonomie die Grundlage der Botanik bildet, aber er lehrte uns auch, dass Schwalben unter Seen überwintern, dass vier Meter große Riesen durch Patagonien stapfen und dass die Hottentotten Monorchiden seien, die nur einen Hoden haben. Sie haben zwei. Ich habe nachgesehen! Deus creavit, Linnæus disposuit, hieß sein Wahlspruch, und jeder, der anders dachte, war ein Ketzer, dessen Laufbahn zerstört werden musste. Dennoch hat er mein Schicksal ganz direkt beeinflusst, denn er riet mir, ich solle als sein ‹Jünger› nach Asien reisen, die Pflanzenwelt Ostindiens katalogisieren und versuchen, nach Japan zu gelangen, um mir auf diesem Wege eine Professur zu erwerben.»
«Sie nähern sich Ihrem fünfzigsten Geburtstag, nicht wahr?»
«Linnæus war sich dessen gar nicht bewusst, aber das Letzte, was ich von ihm lernte, war, dass eine Professur den Philosophen im Menschen tötet. Natürlich fordert die Eitelkeit, dass meine stetig wachsende Flora Japonica eines Tages veröffentlicht wird - als Weihgabe an das Wissen der Menschheit -, aber ein Lehrstuhl in Uppsala, Leiden oder Cambridge übt keinen Reiz auf mich aus. In diesem Leben gehört mein Herz Ostasien. Dies ist mein drittes Jahr in Nagasaki, und ich habe genügend Arbeit für weitere drei bis sechs Jahre. Wenn wir zum Empfang bei Hofe reisen, sehe ich Landschaften, die vor mir noch kein europäischer Botaniker zu Gesicht bekommen hat. Meine Famuli sind begeisterte junge Männer - und eine junge Frau -, und die Gelehrten, die mich besuchen, bringen mir Proben aus allen Teilen des Kaiserreichs.»
«Aber fürchten Sie sich nicht, hier zu sterben, so weit entfernt von ...?»
«Wir alle müssen irgendwo sterben, Domburger. Wie ist der Spielstand?»
«Sie haben einundneunzig Punkte, ich dreihundertsechs.»
«Sollen wir die Punktezahl auf tausend erhöhen und den Einsatz verdoppeln?»
«Heißt das, ich darf Sie zweimal in die Shirandō-Akademie begleiten?»
Wenn Fräulein Aibagawa mich dort sieht , denkt er, sieht sie mich in einem völlig neuen Licht.
«Vorausgesetzt, Sie sind bereit, zwölf Stunden lang Pferdeäpfel in die Rote-Rüben-Beete zu schaufeln.»
«Wie Sie wünschen ...», der Sekretär überlegt, ob van Cleef ihm wohl den geschickten Weh überlässt, damit er das Jabot an seinem besten Hemd ausbessert, «... ich nehme Ihre Bedingungen an.»
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Der Garten auf Dejima
Am späten Nachmittag des 16. September 1799
Jacob gräbt den letzten Pferdemist des Tages unter die Roten Rüben und holt aus den geteerten Fässern Wasser für die Herbstgurken. Er ist heute Morgen eine Stunde früher zur Arbeit gegangen und hat um vier Uhr seinen Dienst beendet, um die ersten der zwölf Stunden Gartenarbeit abzuleisten, die er dem Arzt schuldet. Marinus, dieser Halunke , denkt Jacob, hat verheimlicht, dass er ein Meister im Billardspiel ist, aber eine Wette ist nun mal eine Wette. Er beseitigt das Stroh, das um die Stämme der Gurkenpflanzen liegt, leert beide Kürbisflaschen und legt Mulch auf, der die Feuchtigkeit in der durstigen Erde halten soll. Ab und zu taucht über der Mauer zur Langen Straße ein
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