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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Domburger?» Jacob erzielt eine seltene Doppelkarambolage: zwölf Punkte.
    «Als ich zum Haus zurückkehrte, war noch immer alles dunkel. Ich klingelte wieder und rief jeden bekannten Gott um Hilfe an. Eine alte Frau, das Dienstmädchen, riss die Tür auf und wetterte, dass sie, wäre sie die Herrin, mich ohne weitere Umstände fortschicken würde, denn bei ihr gelte Zuspätkommen als Sünde. Da sie aber leider nicht die Herrin sei, solle ich zu Klaas in den Garten hinterm Haus gehen - aber gefälligst durch den Lieferanteneingang im Keller. Dann schlug sie mir die Tür vor der Nase zu. Ich ging die Treppe hinunter und klopfte. Derselbe grimmige Zerberus in Unterröcken erschien, bemerkte meinen Stock und führte mich durch einen schmutzigen Kellerflur in einen wunderschönen versunkenen Garten. Jetzt spielen Sie schon Ihren Ball, sonst stehen wir noch um Mitternacht hier.»
    Jacob versenkt beide Spielbälle und platziert den roten in guter Ausgangsposition.
    «Ein alter Gärtner trat hinter dichten Fliederbüschen hervor und forderte mich auf, ihm meine Hände zu zeigen. Verdutzt fragte er, ob ich denn überhaupt schon einmal Gartenarbeit verrichtet hätte. Nein, sagte ich. ‹Dann wollen wir den Garten entscheiden lassen›, sagte Klaas der Gärtner, und viel mehr sprach er an diesem Tag nicht mit mir. Wir mischten Weißbuchenblätter unter Pferdemist, streuten Sägespäne in die Rosenbeete, harkten in dem kleinen Apfelgarten Blätter ... es waren meine ersten glücklichen Stunden seit langer, langer Zeit. Wir entfachten mit den zusammengeharkten Blättern ein Feuer und brieten eine Kartoffel. Ein Rotkehlchen setzte sich auf meinen Spaten - ich sah ihn schon als meinen Spaten - und sang sein Lied.» Marinus ahmt das Chk-Ckh-Chik eines Rotkehlchens nach. «Es dämmerte bereits, als eine Dame mit kurzgeschnittenen weißen Haaren in einem persischen Morgenmantel über den Rasen auf uns zukam. ‹Ich bin Lidewijde Mostaart›, erklärte sie, ‹aber das Rätsel bist du›.» Sie hatte nämlich eben erst erfahren, dass der richtige Gärtnerjunge, der an diesem Nachmittag kommen sollte, sich das Bein gebrochen hatte. Ich erklärte ihr, wer ich sei, und berichtete von Großonkel Cornelis ...»
    Als er hundertfünfzig Punkte überschritten hat, macht Jacob einen Fehlstoß und überlässt den Tisch Marinus.
    Im Garten bürstet der Sklave Sjako Läuse vom Salat.
    Marinus lehnt sich aus dem Fenster und sagt etwas in fließendem Malaiisch. Sjako antwortet, und Marinus kehrt belustigt an den Spieltisch zurück. «Lidewijde Mostaart, so stellte sich heraus, war eine entfernte Cousine meiner Mutter, aber die beiden waren sich nie begegnet. Abigail, das alte Dienstmädchen, plusterte sich mächtig auf und nörgelte, dass mich bei meiner Lumpenkleidung wohl jeder für den neuen Gärtnerjungen gehalten hätte. Klaas sagte, ich hätte das Zeug zum Gärtner, und zog sich in den Schuppen zurück. Ich bat Frau Mostaart, bleiben und Klaas’ Gehilfe werden zu dürfen. Sie antwortete, dass sie für die meisten Leute nicht ‹Frau Mostaart›, sondern ‹Fräulein Mostaart› sei und dass ich sie ‹Tante› nennen dürfe. Dann nahm sie mich mit ins Haus, damit ich Elisabeth kennenlernte. Sie gaben mir Fenchelsuppe, ich beantwortete ihre Fragen, und am nächsten Morgen erklärten sie, dass ich so lange bei ihnen bleiben könne, wie ich wolle. Meine alten Kleider wurden dem Feuergott geopfert.»
    Zikaden zirpen in den Kiefern. Es klingt wie zischendes Fett in einer Pfanne.
    Marinus misslingt ein Winning Hazard, und er versenkt aus Versehen seinen eigenen Ball.
    «So ein Pech», sagt Jacob teilnahmsvoll und schreibt den Fehler seinem eigenen Punktekonto gut.
    «Pech gibt es nicht beim Geschicklichkeitsspiel. Nun, Bücherfreunde sind in Leiden keine Seltenheit, aber Bücherfreunde, die durch Lesen klug geworden sind, sind dort so rar gesät wie anderswo. Tante Lidewijde und Tante Elisabeth waren solche Leser, voller Scharfsinn und voller Gier nach dem geschriebenen Wort. Lidewijde hatte in ihrer Blütezeit in Wien und Neapel ‹Verbindungen› zur Bühne gehabt, und Elisabeth war, was wir heute einen Blaustrumpf nennen, und ihr gemeinsames Haus war eine wahre Bücherschatzkammer. Zu diesem gedruckten Garten wurde mir der Schlüssel überlassen. Außerdem unterrichtete mich Lidewijde im Cembalospiel, Elisabeth lehrte mich Französisch und ihre Muttersprache Schwedisch, und in Klaas dem Gärtner fand ich meinen ersten, zwar ungebildeten, aber

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