Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
George Washington gekämpft hat, und vertilgt gerade seine dritte Portionen Aprikosenpudding, als Marinus ins Esszimmer hinkt.
«Wir hatten gar nicht mehr mit Ihrem Erscheinen gerechnet, Herr Doktor», empfängt ihn Vorstenbosch.
«Ein angebrochenes Schlüsselbein», Marinus nimmt Platz, «eine Ellenfraktur, ein gebrochener Kiefer, eine Splitterfraktur der Rippe, drei ausgeschlagene Zähne, schwere Quetschungen am ganzen Körper, besonders im Gesicht und im Genitalbereich, sowie eine teilweise abgelöste Kniescheibe. Wenn er wieder gehfähig ist, wird er so geschickt humpeln wie ich, und sein gutes Aussehen ist, Sie ahnen es, für immer dahin.»
Fischer trinkt sein Yankeebier, als ob ihn das alles nichts anginge.
«Dann», erkundigt sich van Cleef, «schwebt der Sklave nicht in Lebensgefahr?»
«Im Augenblick nicht, aber Fieber und Infektionen lassen sich nicht ausschließen.»
«Wie lange», Vorstenbosch bricht einen Zahnstocher entzwei, «muss er genesen?»
«Bis alle Verletzungen verheilt sind. Danach empfehle ich leichte Arbeiten.»
Lacy schnaubt. «Hier verrichten alle Sklaven leichte Arbeiten: Dejima ist ein Schlaraffenland.»
«Haben Sie aus dem Sklaven», fragt Vorstenbosch, «seine Version der Ereignisse herausbekommen?»
«Ich hoffe doch», sagt Fischer, «dass die Aussagen von Herrn Gerritszoon und mir mehr sind als eine bloße ‹Version der Ereignisse›?»
«Jede Beschädigung von Kompanieeigentum muss untersucht werden, Fischer.»
Kapitän Lacy fächelt sich mit seinem Hut Luft zu. «Bei uns in Carolina würden wir jetzt erörtern, wie viel Schadenersatz Herr Fischer von den Eigentümern des Sklaven einfordern kann.»
«Nachdem die Umstände geklärt sind, hoffe ich! Dr. Marinus: Warum ist der Sklave nicht zum Appell erschienen? Er lebt schon seit vielen Jahren hier. Er kennt die Vorschriften.»
«Ich würde es ebendiesen vielen Jahren zuschreiben.» Marinus füllt sich Pudding auf. «Sie haben ihn ausgezehrt und eine Schwächung der Nervenkraft herbeigeführt.»
«Sie ...», Lacy bekommt vor Lachen keine Luft mehr, «... Sie sind einmalig, Doktor! Eine ‹Schwächung der Nervenkraft›? Was kommt als Nächstes? Ein Maultier, das zu melancholisch ist zum Lastenziehen? Eine Henne, die zu empfindsam ist zum Eierlegen?»
«Sjako hat in Batavia Frau und Sohn», sagt Marinus. «Als Gijsbert Hemmij ihn vor sieben Jahren mit nach Dejima nahm, wurde die Familie auseinandergerissen. Als Hemmij dann nach Java zurückkehrte, versprach er Sjako, ihm für seine treuen Dienste die Freiheit zurückzugeben.»
«Bekäme ich für jeden Nigger», ruft Lacy triumphierend, «dem man unüberlegt die Freiheit verspricht, auch nur einen Dollar, ich könnte mir ganz Florida kaufen.»
«Aber mit Faktor Hemmijs Tod», hält van Cleef dagegen, «erlosch auch sein Versprechen.»
«Noch in diesem Frühling versprach ihm Daniel Snitker, er werde das Versprechen nach Beendigung der Handelszeit einlösen. Man ließ Sjako in dem Glauben», Marinus stopft seine Pfeife, «er werde in wenigen Wochen als freier Mann nach Batavia segeln, und als die Shenandoah kam, hatte er sein Herz schon darauf ausgerichtet, für die Freiheit seiner Familie zu arbeiten.»
«Snitkers Wort», bemerkt Lacy, «ist das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben wurde.»
«Erst gestern erfuhr Sjako», Marinus hält einen Fidibus in die Kerze und zündet die Pfeife an, «dass man das Versprechen gebrochen hat und ihm die Freiheit verwehrt.»
«Der Sklave wird bis zum Ende meiner Amtszeit hierbleiben», entscheidet der Faktor. «Dejima braucht Arbeitskräfte.»
Der Arzt pafft eine Rauchwolke aus. «Warum bekunden Sie dann Ihr Erstaunen über seine Gemütsverfassung? Bei mir ist sieben plus fünf zwölf: zwölf Jahre. Sjako kam als Siebzehnjähriger hierher: Das heißt, er wird Dejima frühestens mit neunundzwanzig verlassen. Bis dahin wird man seinen Sohn verkauft und seine Frau mit einem anderen verheiratet haben.»
«Wie kann ich ein Versprechen brechen, das ich nie gegeben habe?», entgegnet Vorstenbosch.
«Ein schlauer und berechtigter Einwand, Herr Faktor», sagt Peter Fischer.
«Auch ich habe Frau und Töchter seit acht Jahren nicht gesehen!», sagt van Cleef.
«Sie sind stellvertretender Faktor.» Marinus kratzt an einem Blutfleck auf seiner Manschette. «Sie sind hier, um reich zu werden. Sjako ist ein Sklave, der hier ist, damit seine Herren ein angenehmes Leben haben.»
«Ein Sklave ist ein Sklave», ereifert sich Fischer,
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