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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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gotteslästerliche Skelett, «... ist sie?»
    «Die Seele ist kein Nomen ...», Marinus spießt eine brennende Kerze auf einen Halter, «... sondern ein Verb.»
    Eelattu bringt zwei Becher bitteres Bier und süße getrocknete Feigen ...
     
    Immer wieder glaubt Jacob, noch heftiger könne der Sturm unmöglich toben, ohne das Dach abzureißen, aber der Wind wütet weiter, und das Dach hält - bis jetzt. Balken ächzen und knarren wie eine klappernde Windmühle in vollem Betrieb. Eine entsetzliche Nacht , denkt Jacob, doch selbst schreckliche Angst wird irgendwann zum Einerlei . Eelattu stopft eine Socke, während der Arzt in Erinnerungen an seine Reise nach Edo mit dem verstorbenen Faktor Hemmij und Kontorleiter van Cleef steckt. «Sie beschwerten sich, dass es keine Bauten wie den Petersdom oder Notre-Dame gäbe: Aber das Genie des japanischen Volkes zeigt sich in seinen Straßen. Der Tōkaido führt von Osaka bis nach Edo - vom Bauch des Reichs bis zu seinem Kopf, wenn Sie so wollen -, und ich behauptete, dass es nirgends auf der Welt etwas gibt, das so alt und zugleich so modern ist. Die Straße ist eine eigene Stadt, fünfzehn Fuß breit, aber dreihundert trockengelegte, gepflasterte und bestens gepflegte deutsche Landmeilen lang. Es gibt dreiundfünfzig Stationen, an denen Reisende Lastenträger mieten, die Pferde wechseln, sich ausruhen oder die ganze Nacht hindurch zechen können. Und das Schönste, weil es so einfach ist und so klug? Der gesamte Verkehr bewegt sich auf der linken Seite, weshalb die vielen Zusammenstöße, Beschlagnahmungen und Staus, die Europas Verkehrsadern verstopfen, hier völlig unbekannt sind. An den weniger befahrenen Abschnitten brachte ich unsere Inspektoren beinahe um den Verstand, weil ich immer wieder aus meiner Sänfte schlüpfte, um am Straßenrand Pflanzen zu sammeln. Ich fand über dreißig neue Arten für meine Flora Japonica, die Thunberg und Kaempfer entgangen waren. Und schließlich kommt man nach Edo.»
    «Das nicht mehr, als, wie viele ... ein Dutzend lebende Europäer gesehen haben?»
    «Weniger! Sichern Sie sich in den nächsten drei Jahren den Posten des Kontorleiters, und Sie werden es selbst sehen.»
    Dann bin ich nicht mehr hier , hofft Jacob, dann aber denkt er beklommen an Orito.
    Eelattu schneidet den Faden ab. Die See bäumt sich auf, nur eine Straße und einen Damm weit entfernt.
    «Edo, das bedeutet eine Million Menschen in einem Netz aus Straßen, das sich ausbreitet, so weit das Auge reicht. Edo ist ein nie endendes Getöse aus klappernden Holzpantoffeln, ratternden Webstühlen, Geschrei, Hundegebell, Rufen und Flüstern. Edo ist die Ansammlung aller menschlichen Bedürfnisse und ist zugleich die Möglichkeit, sie alle zu befriedigen. Jeder Fürst muss dort einen Wohnsitz für seinen Stammhalter und seine Hauptfrau haben, und die größten dieser Ansitze sind im Grunde ummauerte Städte. Die große Edo-Brücke - auf die sich jeder Meilenstein in Japan bezieht - ist zweihundert Schritte breit. Ich wünschte, ich hätte in die Haut eines Einheimischen schlüpfen und in diesem Labyrinth umherstreifen können, aber natürlich durften Hemmij, van Cleef und ich unsere Herberge zu ‹unserer eigenen Sicherheit› erst am vorgesehenen Tag unserer Audienz beim Shōgun verlassen. Die vielen Gelehrten und Schaulustigen, die zu Besuch kamen, linderten die Langeweile, besonders die, die Pflanzen, Knollen und Samen mitbrachten.»
    «Was für Fragen wurden Ihnen gestellt?»
    «Medizinische, wissenschaftliche, kindische: ‹Ist Elektrizität eine Flüssigkeit?›, ‹Tragen Fremdländer Stiefel, weil sie keine Knöchel haben?›, ‹Gilt die eulersche Formel e i φ = cos(φ) + i sin(φ) für jede reelle Zahl?› ‹Wie können wir eine Montgolfiere bauen?›, ‹Kann eine kanzeröse Brust entfernt werden, ohne dass die Patientin stirbt?› Einer fragte sogar: ‹Können wir aus der Tatsache, dass die Sintflut Japan verschont hat, schließen, dass Japan anderen Ländern überlegen ist?› Dolmetscher, Beamte und Wirte, jeder verlangte Eintritt für das Orakel von Delphi, aber wie ich schon andeutete ...»
    Das Haus zittert wie bei einem Erdbeben, das Gebälk knirscht.
    «... verschafft mir die Hilflosigkeit der Menschen einen gewissen Trost.»
    Diese Empfindung kann Jacob nicht teilen. «Wie war die Begegnung mit dem Shōgun?»
    «Wir waren mit dem eingemotteten Prunk von anderthalb Jahrhunderten ausstaffiert: Hemmij trug eine Jacke mit Perlmuttknöpfen, eine Weste im

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