Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
sehen.»
«Wie viel Zeit bleibt uns», fragt Jacob, «bis wir mit der Arbeit aufhören müssen?»
«Eine Stunde, mit Öl in Laterne. Dann ich sollte gehen.»
Jacob schreibt eine kurze Nachricht an Ouwehand mit der Bitte, er möge Hanzaburo einen Krug Öl aus dem Vorratslager aushändigen, während Ogawa dem Hausdolmetscher auf Japanisch Anweisungen erteilt. Der Junge geht nach draußen, wo der Wind an seinen Kleidern zerrt.
«Letzte Taifune von Saison», sagt Ogawa, «können Lehen Hizen besonders schlimm treffen. Wir glauben: Gott hat gerettet Nagasaki vor schwerem Taifun dieses Jahr, aber dann ...» Ogawa macht mit den Händen den Stoß eines Rammbocks nach.
«Auch die Herbststürme in Zeeland sind berüchtigt.»
«Verzeihung», Ogawa schlägt sein Notizbuch auf, «aber was ist ‹berüchtigt›?»
«Wenn etwas berüchtigt ist, dann ist es überall als etwas Schlimmes bekannt.»
«Herr de Zoet sagt», erinnert sich Ogawa, «Heimatinsel liegt unter Spiegel von Meer.»
«Walcheren? Ganz recht. Wir Niederländer leben unter den Fischen.»
«Zu verhindern, dass Meer schwimmt über Land», sinniert Ogawa, «ist sehr alter Krieg.»
«‹Krieg› ist das treffende Wort! Manchmal verlieren wir die Schlacht ...», Jacob entdeckt Schmutz unter seinem Daumennagel, der von den letzten Stunden Arbeit in Dr. Marinus’ Garten stammt, «... und dann brechen die Deiche. Doch obwohl das Meer der Feind der Niederländer ist, ernährt es uns und ist die Quelle unseres Einfallsreichtums. Hätte uns die Natur mit hochgelegenem, fruchtbarem Land gesegnet wie unsere Nachbarn, wozu hätten wir dann die Amsterdamer Börse, die Aktiengesellschaft und unser Handelsimperium erfinden müssen?»
Zimmerleute befestigen die Balken des halb wiederaufgebauten Speichers Lelie.
Jacob beschließt, vor Hanzaburos Rückkehr ein heikles Thema anzuschneiden. «Herr Ogawa, als Sie an meinem ersten Vormittag an Land meine Bücher durchsuchten, haben Sie doch sicher mein Wörterbuch gesehen.»
« Neues Wörterbuch der niederländischen Sprache. Sehr schönes und seltenes Buch.»
«Es wäre, so nehme ich an, für einen japanischen Studenten des Niederländischen von großem Nutzen.»
«Niederländisches Wörterbuch ist Zauberschlüssel, das viele verschlossen Türen öffnet.»
«Aus diesem Grund ...», Jacob zögert, «möchte ich es gerne Fräulein Aibagawa schenken.»
Vom Wind verzerrte Stimmen dringen ins Lagerhaus wie Echos aus einem Brunnenschacht.
Ogawas unbewegte Miene ist nicht zu durchdringen.
«Was glauben Sie», tastet Jacob sich vor, «wie würde sie ein solches Geschenk aufnehmen?»
Ogawa zupft an einem Knoten seines Obis. «Viel Überraschung.»
«Ich hoffe, keine unangenehme?»
«Wir haben Sprichwort.» Der Dolmetscher schenkt sich Tee ein. «‹Nichts kostet mehr als Ding, das keinen Preis hat.› Wenn Fräulein Aibagawa so ein Geschenk erhält, sie denkt vielleicht: ‹Was ist wahrer Preis, wenn ich annehme?›»
«Aber ich verlange keine Gegenleistung. Bei meiner Ehre, ich verlange gar nichts.»
«Dann ...», Ogawa trinkt langsam seinen Tee und meidet sorgsam jeden Blickkontakt, «... warum Herr de Zoet dann geben?»
Das ist ja noch schlimmer , denkt Jacob, als sich mit Orito im Garten zu unterhalten.
«Weil ...», der Sekretär gerät ins Stottern, «... nun, der Grund, weshalb ich ihr dieses Geschenk machen möchte, ich meine, die Ursache für mein Bedürfnis, also, was den Puppenspieler sozusagen antreibt, ist, wie Dr. Marinus es vielleicht ausdrücken würde ... eine unberechenbare Größe.»
Was ist das für ein wirres Geschwätz ?, sagt Ogawas Gesichtsausdruck.
Jacob nimmt die Brille ab, blickt nach draußen und sieht einen Hund, der das Bein hebt.
«Buch ist ...», Ogawa betrachtet Jacob wie ein Bild in einem unsichtbaren Rahmen, «... Liebesgeschenk?»
«Ich weiß ...», Jacob kommt sich vor wie ein Schauspieler, der auf die Bühne muss, ohne seinen Text zu kennen, «... dass sie - Fräulein Aibagawa - keine Kurtisane ist und dass ein Niederländer nicht der ideale Ehemann ist, aber dank meines Quecksilbers bin ich kein armer Schlucker - doch all das ist nicht von Bedeutung, und sicher wird man mich für den allergrößten Dummkopf auf der Welt halten ...»
Ein winziger Muskel zuckt unter Ogawas Auge.
«Ja, man könnte es vielleicht eine Liebesgabe nennen, aber wenn Fräulein Aibagawa nichts für mich empfindet, ist das unerheblich. Sie kann das Buch behalten. Mir vorzustellen, dass sie es verwendet,
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