Die Teerose
an. Es war Amy. »Danke, Fee«, flüsterte sie. »Daß du’s versucht hast, meine ich. Das war sehr mutig von dir. Ich wünschte, ich wär so mutig wie du.«
»Ach was, ich bin blöd, nicht mutig«, antwortete Fiona traurig.
Amy küßte sie auf die Wange und Violet ebenso. Dann riet ihr Gem, schnell an die Arbeit zurückzugehen, bevor sie ebenfalls rausgeworfen wurde.
Der abendliche Sonnenschein, der Joes Rücken wärmte, schien den schmutzigen Straßen und engen Gassen von Whitechapel, durch die er mit Fiona schlenderte, weitaus weniger wohlzutun. Die grellen Strahlen beleuchteten verfallene Häuser und Läden, enthüllten bröckelnde Dächer, rissige Mauern und stinkende Rinnsteine, die besser hinter Nebel und Regen verborgen geblieben wären. Die Worte seines Vaters fielen ihm ein: »Nichts läßt diesen Ort so gräßlich aussehen wie die Sonne. Sie ist wie Rouge auf den Wangen einer alten Hure und macht alles nur noch schlimmer.«
Er wünschte, er könnte ihr etwas Schöneres bieten. Er wünschte, er könnte sie in ein elegantes Lokal einladen, in eins der Pubs mit roten Samttapeten und geschliffenen Glasscheiben. Aber er hatte sehr wenig Geld, und das einzige, was er zu bieten hatte, war ein Spaziergang die Commercial Street hinunter, um die Schaufenster anzusehen und vielleicht für einen Penny Chips oder Ingwernüsse zu erstehen.
Er beobachtete sie, als sie in die Auslage eines Juweliers sah, bemerkte ihre angespannten Kiefer und wußte, daß sie sich immer noch wegen Burton Vorwürfe machte, wegen der Mädchen, die entlassen worden waren. Gleich nach dem Abendessen war er zu ihr gegangen, und sie hatte ihm beim Gehen davon erzählt.
»Du hast doch nicht wirklich geglaubt, daß du damit durchkommst?« fragte er sie jetzt.
Traurig wandte sie sich zu ihm um. »Das ist es ja, Joe, das hab ich geglaubt.«
Joe lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich hab ein Mädchen, das wirklich Courage hat.«
Fiona lachte, und er freute sich über ihr Lachen. Einige Zeit zuvor hatte sie vor Wut und Sorge bittere Tränen vergossen. Er hielt es nicht aus, sie weinen zu sehen. Es gab ihm das Gefühl, nutzlos und schwach zu sein. Er legte den Arm um sie, zog sie an sich und küßte sie auf den Kopf. »Zwölf und sechs«, flüsterte er ihr zu, als sie weitergingen. »Zum Teufel mit William Burton.«
»Zwölf und sechs?« fragte sie aufgeregt.
»Ja. Die Geschäfte sind gut gelaufen diese Woche. Ich hab ein bißchen was dazugelegt.«
»Wie läuft’s mit deinem Vater?«
Joe zuckte die Achseln. Er hatte keine Lust, darauf einzugehen, aber sie drängte ihn, und schließlich gab er zu, daß sie heute einen schlimmen Streit gehabt hatten.
»Schon wieder? Worum ging’s denn diesmal?«
»Um einen zweiten Wagen. Ich möcht einen anschaffen, er nicht.«
»Warum nicht?«
»Weißt du, es ist so«, begann er aufgebracht, »wir kommen mit einem Wagen ganz gut aus, aber es könnte besser sein. Die Nachfrage ist da. Letzten Samstag – du hast’s ja gesehen – sind wir mit dem Verkaufen gar nicht mehr nachgekommen. Uns ist tatsächlich die Ware ausgegangen – ausgegangen, Fee –, so viele Leute wollten einkaufen! Wir hätten noch eine Kiste Äpfel, Feigen, Kartoffeln und Brokkoli umsetzen können, aber von einem leeren Wagen kannst du ja nichts verkaufen. Seit zwei Monaten lieg ich ihm wegen einem zweiten Wagen in den Ohren, damit man die Waren aufteilen könnte – Obst auf dem einen, Gemüse auf dem anderen. Aber er will nichts davon hören.«
»Warum nicht? Das wär doch vernünftig.«
»Er sagt, wir kommen auch so gut aus. Wir verdienen unseren Lebensunterhalt, und es besteht kein Anlaß, ein Risiko einzugehen. ›Man soll sein Glück nicht herausfordern‹, sagt er immer. Mein Gott, er ist so furchtbar lahm. Er sieht die Möglichkeiten einfach nicht. Ich möcht nicht bloß meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich möcht Profit sehen und das Geschäft vergrößern.«
»Vergiß doch deinen Vater«, sagte Fiona. »Noch ein Jahr, und er sitzt dir nicht mehr im Nacken. Dann sind wir selbständig und haben mit unserem Laden den größten Erfolg, den die Welt je gesehen hat. Aber jetzt mußt du dich einfach damit abfinden. Dir bleibt nichts anderes übrig.«
»Du hast recht«, antwortete er bedrückt. Aber er fragte sich, ob er sich tatsächlich damit abfinden konnte. Die Spannungen wurden immer größer. Er wollte Fiona nichts davon erzählen – sie hatte heute schon genügend Aufregung hinter sich –, aber er und sein
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