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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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einer der reichsten und erfolgreichsten Teehändler in ganz England. Er hatte sich aus dem Nichts hochgearbeitet und war zum Konkurrenten der angesehensten Firmen der Branche – Twining, Brooke, Fortnum & Mason und Tetley – aufgestiegen. Fiona kannte seine Geschichte, wie jedermann. Er war in Camden Town aufgewachsen, als einziges Kind einer verarmten, inzwischen verstorbenen Näherin, deren Mann, ein Matrose, auf See umgekommen war. Im Alter von acht Jahren verließ er die Schule, um in einem Teeladen zu arbeiten, und durch Fleiß und harte Arbeit gelang es ihm im Alter von achtzehn Jahren, den Laden zu kaufen und zur Grundlage dessen zu machen, was heute Burton Tea war. Er hatte nie geheiratet und besaß keine Familie.
    Fiona bewunderte seine Entschlossenheit, die ihm zu seinem Erfolg verholfen hatte, den Mann selbst aber verachtete sie. Sie konnte nicht verstehen, wie jemand, der selbst die bitterste Armut erlitten hatte, kein Mitgefühl für die Menschen empfand, die er hinter sich gelassen hatte.
    Burton beendete seine Runde und rief nach Mr. Minton. Fiona hörte sie miteinander reden. Noch ein anderer Mann stand bei ihnen. Sie konnte seine Stimme hören. Sie riskierte einen Blick und sah Burton auf verschiedene Mädchen deuten, während Minton nickte und der dritte Mann, der elegant und vornehm gekleidet, aber sehr dick war, auf seine Uhr sah. Dann meldete sich Minton umständlich und wichtigtuerisch zu Wort: »Hört mal her, Mädchen. Mr. Burton hat mich gerade informiert, daß verschiedene Projekte und Unternehmungen, mit denen wir vor kurzem begonnen haben, die Notwendigkeit drastischer ökonomischer Maßnahmen erfordern …«
    Fünfzig besorgte Gesichter richteten sich auf den Vorarbeiter. Sie verstanden nicht, was das Kauderwelsch bedeuten sollte, wußten aber, daß es nichts Gutes verhieß.
    »… was bedeutet, daß ich einige von euch gehen lassen muß«, fuhr er fort, was ein allgemeines Aufstöhnen zur Folge hatte. »Wessen Name genannt wird, geht bitte in mein Büro, um seinen Lohn abzuholen. Violet Simms, Gemma Smith, Patsy Gordon, Amy Caldwell …« Fünfzehn Namen wurden aufgerufen. Minton, der Fionas Blick auffing, hatte wenigstens den Anstand, beschämt auszusehen, er hielt inne und fügte dann »Fiona Finnegan …« hinzu.
    O Gott, nein. Was sollte sie ihrer Ma sagen? Ihre Familie brauchte ihren Lohn.
    »… bekommt sechs Pence Strafabzug für Schwatzen. Wenn es weiteres Reden oder irgendwelchen Lärm gibt, werden alle Übeltäterinnen bestraft. Macht euch jetzt wieder an die Arbeit.«
    Fiona sah ihn verwundert an, erleichtert, daß sie nicht entlassen worden, aber wütend, weil sie bestraft worden war, nur weil sie versucht hatte, Amy zu helfen. Um sie herum hörte sie unterdrücktes Schluchzen und leise schlurfende Schritte, als die fünfzehn Mädchen ihre Sachen packten. Sie schloß die Augen. Kleine Lichtpunkte, winzig und hell, tanzten hinter ihren Lidern. Heftiger Zorn wallte in ihr auf, den sie zu unterdrücken versuchte.
    Sie holte tief Luft, öffnete die Augen und nahm ihre Teeschaufel. Aber sie schaffte es nicht, den Blick von ihren bleichen, zitternden Arbeitskolleginnen zu wenden, die sich vor Mintons Büro anstellten. Sie wußte, daß Vi Simms die einzige Stütze ihrer kranken Mutter war. Gem hatte acht jüngere Geschwister und einen Vater, der seinen Lohn vertrank. Und Amy … sie war eine Waise, die gemeinsam mit ihrer Schwester in einem winzigen Zimmer lebte. Wo um alles in der Welt sollte sie eine neue Stelle finden? Ihr Anblick, wie sie verwirrt mit der schäbigen Haube auf dem Kopf und dem abgewetzten Schal um die Schultern dastand, brachte das Faß zum Überlaufen bei ihr. Sie knallte die Teeschaufel auf den Tisch. Wenn Burton sie schon wegen Schwatzens bestrafte, dann sollte er auch was zu hören kriegen.
    Sie marschierte zu Mintons Büro, direkt an allen Mädchen vorbei, die um ihren Lohn anstanden. Für einen angeblich ausgefuchsten Geschäftsmann ist William Burton verdammt kurzsichtig, dachte sie. Er hatte ihnen beim Verpacken zugesehen – kapierte er denn nicht, wie verdammt umständlich der ganze Vorgang war? Offensichtlich hatte er keine Ahnung von diesem Teil seiner Firma. Er glaubte, diese Mädchen entlassen zu müssen, um Geld zu sparen, aber wenn er ihre Arbeitskraft besser einsetzte, konnte er Geld verdienen. Das hatte sie Mr. Minton immer und immer wieder zu erklären versucht, aber er hatte nie zugehört. Vielleicht würde er das jetzt

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