Die Teppichvölker: Roman (German Edition)
unheimlich, aber Snibril hieß diesen Anblick trotzdem willkommen – er verabscheute die Finsternis unter dem Teppich.
Kurz vor dem Ursprung des grünen Glimmens endete die Wendeltreppe an einer Plattform, die genug Platz für alle Wanderer bot. In der Wand sah Snibril eine weitere Tür.
»Wo …«, begann Glurk.
Brocando schüttelte den Kopf und hob den Zeigefinger an die Lippen.
Stimmen erklangen jenseits der Tür.
D rei verschiedene Stimmen ertönten, und zwar so laut, daß die betreffenden Personen nur einen Meter von der verborgenen Tür entfernt sein konnten.
Snibril versuchte, sich passende Gesichter vorzustellen. Eine Stimme klang dünn, schrill und jammernd.
»Noch einmal hundert? Aber erst vor ein paar Tagen hast du fünfzig bekommen!«
»Und jetzt brauchen wir noch einmal hundert«, erwiderte eine leisere, fast sanfte Stimme, die dafür sorgte, daß es Snibril kalt über den Rücken lief. »Ich rate dir, dieses Dokument zu unterzeichnen, Euer Majestät. Anschließend wählen meine Wachen hundert aus, und damit hat es sich. Sie werden nicht zu Sklaven, sondern zu … Assistenten.«
»Ich frage mich, wieso du sie dir nicht einfach nimmst«, entgegnete die erste Stimme verdrießlich.
»Nun, du bist der König «, lautete die Antwort. »Es muß richtig sein, wenn du es sagst. Deshalb brauchen wir deine Unterschrift.«
Snibril brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß Bane lächelte.
»Aber es kehrt nie jemand zurück«, sagte Stimme Eins.
Die dritte Stimme kam dumpfem Grollen gleich. »Es gefällt ihnen so sehr in unserem Land, daß sie unbedingt bleiben wollen.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Stimme Eins.
»Was eigentlich kaum eine Rolle spielt.« Etwas schärfer fügte Stimme Zwei hinzu: »Unterschreib!«
»Nein! Ich weigere mich! Ich bin der König …«
»Ich habe dir den Thron gegeben«, sagte Stimme Zwei leise. »Ich kann ihn dir auch wieder nehmen.« Eine kurze Pause. »Euer Majestät.«
»Ich beschwere mich bei Jornarileesch über dich!« heulte Stimme Eins. Es sollte vermutlich eine Drohung sein, aber sie klang nicht sehr überzeugend. »Ja, er wird alles über dich erfahren!«
»Jornarileesch!« schnurrte Stimme Zwei. »Glaubst du etwa, die anderen scheren sich darum, was hier geschieht? Unterschreib endlich! Oder möchtest du, daß Gorasch hier einen anderen Verwendungszweck für deine Hände findet?«
»Ja«, ertönte Stimme Drei. »Ich fertige eine Halskette daraus an.«
Brocando wandte sich um, während die Stimmen jenseits der Tür abwechselnd drohten oder klagten.
»Mein Bruder«, sagte er. »Das Jammern erkenne ich sofort. Hier ist der Plan: Wir stürmen durch die Tür und bringen möglichst viele Moule um.«
»Hältst du das für einen besonders klugen Plan?« fragte Bane.
»Meiner Ansicht nach klingt's vernünftig«, sagte Glurk.
»Aber es sind Hunderte von Feinden in der Stadt, nicht wahr?« gab Bane zu bedenken.
»Mein Volk wird sich gegen die Unterjocher erheben und sie überwältigen«, zischte Brocando.
»Verfügen deine Untertanen über Waffen?« erkundigte sich der General.
»Nein, aber die Moule haben welche«, entgegnete der Zwerg. »Die Deftmenen brauchen sie ihnen nur abzunehmen.«
Bane stöhnte. »Uns allen steht der Tod bevor. Dies ist keine Taktik. Man nennt so etwas ›aus dem Stegreif improvisieren‹.«
»Und wenn schon.« Brocando hob den Fuß zur Tür und drückte. Das hölzerne Portal bewegte sich ein wenig und verharrte wieder.
»Was ist los?« fragte Snibril.
»Etwas befindet sich auf der anderen Seite«, erwiderte Brocando. »Etwas, das dort nichts zu suchen hat. Helft mir mal!«
Mehrere Schultern stemmten sich gegen die Tür. Sie hielt den gemeinsamen Bemühungen nur kurz stand, bevor sie aufflog. Jemand schrie.
Ein oder zwei Sekunden lang erstarrte alles im Saal.
Ein Thron hatte die Geheimtür blockiert und lag nun auf dem Boden. Darunter war ein dünner Deftmene eingeklemmt und gab mitleiderweckende Geräusche von sich. Weiter hinten standen zwei Moule und starrten verblüfft zum offenen Zugang. Der eine erwies sich als groß und breitschultrig, und sein blasses Gesicht blieb halb unter einem Lederhelm verborgen. In der einen Hand hielt er eine zusammengerollte Peitsche. Stimme Drei , dachte Snibril. Er sieht sogar wie jemand aus, der Gorasch heißt. Der zweite Moul war ein ganzes Stück hagerer, trug einen langen schwarzen Umhang und grinste wie ein Wolf nach dem Mittagessen. Stimme Zwei , vermutete
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