Die Teppichvölker: Roman (German Edition)
entscheiden würde. Athans Gefährten erinnerten sich nicht mehr, und daraus folgte: Es gab jetzt nur noch eine Zukunft für sie – jene, die er dem Ofenmeister gegeben hatte. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden.
Sie nutzten den Rest des heißen Lacks, um Schwerter und Speerspitzen herzustellen. Die Gegenstände bildeten einen großen Haufen, der rasch schrumpfte, als Munrungs und Deftmenen daran vorbeischritten. Die Schlauen folgten ihnen und ließen Wagen und Kessel zurück.
Eine Million Mal verloren die Schlauen Kampf und Leben. Doch das geschah woanders, in einer alternativen Es-hätte-sein-können-Welt. Hier lebten sie. Hier berichtete die Geschichte von ihrem Sieg – und die Geschichte wird von den Lebenden geschrieben.
S ie folgten dem Verlauf schmaler Pfade, die sich durch den Haarwald wanden, vorbei an dichten Staubbüschen. An manchen Stellen waren gewaltige Haare abgeknickt, und ihre umgestürzten Stämme versperrten den Weg. Fusseln formten natürliche Barrieren. Oft mußten Munrungs, Deftmenen und Schlaue Messer und Schwerter verwenden, um eine Gasse durch die Hindernisse zu schneiden.
Einmal, in einem Dickicht aus orangefarbenen Haaren, sauste etwas aus den Staubgespinsten und bohrte sich dicht neben Snibrils Kopf in einen Haarstamm – ein Speer.
Weit oben bewegte sich eine Gestalt und schwang am langen Faserstrang einer Kletterpflanze, von Deftmenen-Pfeilen umschwirrt. Sie fanden nie heraus, wer oder was den Speer geworfen hatte, doch kurze Zeit nach diesem Zwischenfall entdeckten sie etwas anderes: eine Stadt.
Sie fehlte auf allen Karten des Teppichs. Schon seit einer ganzen Weile waren sie auf überwucherten Straßen unterwegs und merkten es erst, als sie die Statuen fanden. Kleine blaue Staubblumen wuchsen an ihnen, und um sie herum hatten sich Fusseln angesammelt, aber sie erhoben sich nach wie vor im Zentrum einer verlorenen Stadt. Die Skulpturen stellten vier Könige dar: Hölzerne Kronen ruhten auf hölzernen Köpfen, und die ausgestreckten Arme deuteten in alle vier Himmelsrichtungen. Farnkraut gedieh an den Füßen, und kleine Geschöpfe hatten sich in den Armbeugen und Falten der hölzernen Gewänder niedergelassen.
Wenn man neben den Statuen verharrte und aufmerksam Ausschau hielt, wenn man darauf achtete, wie die Haare und Staubhügel aufragten … Dann erkannte man die Konturen der Stadt. Das Alter hing wie eine Rauchwolke über ihr. Haare wuchsen aus den Ruinen von Gebäuden, und das Pflaster der Straßen verbarg sich unter einer dicken Staubschicht. Kletterpflanzen und Ranken hatten ebenfalls einen Beitrag zum allgemeinen Verfall geleistet, mit ihren Wurzeln Mauern durchlöchert und zum Einsturz gebracht. Ausläufer von ihnen reichten bis in geheimnisvolle Gewölbe hinab. Insekten summten und zirpten in geborstenen Torbögen. Haarpollen glitzerten in der Luft.
»Kennt ihr diesen Ort?« fragte Snibril.
Niemand kannte ihn, nicht einmal Athan.
»Manchmal gehen Orte verloren«, sagte der Ofenmeister. »Die Bewohner verlassen ihn. Haare wachsen. Straßen verschwinden unter Staubbüschen.«
»So wie die Statuen aussehen …«, murmelte Snibril. »Vielleicht dachten die hier wohnenden Leute, ihre Stadt sei für die Ewigkeit geschaffen.«
»Dann haben sie sich geirrt«, erwiderte Athan schlicht.
Und jetzt existiert jenes Volk nicht mehr , dachte Snibril. Oder es sind noch einige der Fremden übrig und jagen in den Resten ihrer Stadt. Niemand weiß, wer sie waren und was sie vollbrachten. Man hat sie einfach vergessen. So darf es uns nicht ergehen …
Die Schlauen schwiegen die meiste Zeit über. So muß es sich anfühlen, plötzlich zu erblinden , fuhr es Snibril durch den Sinn. Wir sind an eine unbekannte Zukunft gewöhnt, aber sie …
Einige Stunden später erreichten sie eine Dumii-Straße. Sie war weiß und bestand aus Haarstreifen, die Kante an Kante lagen. In regelmäßigen Abständen zeigten sich geschnitzte Fingersymbole in den Haarplanken – alle Finger deuteten nach Wehr.
Eine Zeitlang folgten sie dem Verlauf der Straße. Gelegentlich mußten sie nach rechts oder links ausweichen, weil Bewegungen des Teppichs das lange Band des Weges zerrissen hatte.
Und dann fanden sie die Legion – beziehungsweise das, was von ihr übrig war. Dumii-Soldaten lagen oder saßen zwischen den Haaren am Straßenrand. Einige von ihnen schliefen, andere verbanden ihre Wunden.
In Tregon Marus hatte Snibril viele Soldaten gesehen, aber dabei
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