Die Terranauten TB 04 - Zeitfenster
Sarah Sartig, die sich in den Muff von tausend Jahren hüllt und das Rad der Geschichte zurückdrehen will.
Gral trank einen Schluck von dem orangefarbenen Cocktail.
Eine illustre Gemeinschaft, dachte er ironisch. Ricarda, Vater Theosos und Sarah Sartig als Gäste des verrückten Kanzlers Egbert und des nicht minder verrückten Jodekain.
Jodekain …
Wo steckte der General?
Suchend sah sich Gral um. Er entdeckte Vater Theosos, der ihn offenbar in diesem Moment erspähte, die dünnen Lippen zu einem freundlichen Lächeln verzog, das das Raubvogelhafte seines Gesichtes wundersamerweise vergessen ließ, und dann steuerte der agile Gnom auch auf Gral zu.
Gral schauderte.
Gott, nur das nicht!
Er wandte sich hastig ab, doch da spürte er schon Theosos’ knochige Hand auf seinem Rücken.
Die Stimme des Predigers war von überraschender Fülle. Sie war warm und eindringlich, und Gral begann langsam zu verstehen, wie der Sektenführer seine Anhänger verhexte.
Theosos besaß keine Stimme, sondern ein Instrument.
Ein Instrument, das Gefühle transmittierte und dessen Klang man sich nur schwer entziehen konnte.
Gegen seinen Willen war Gral sofort fasziniert.
»Sie müssen Direktor Gral sein«, lächelte Theosos. »Ich freue mich. Sie kennenzulernen, Gral. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
Augenblicklich brach der Argwohn in Gral hervor.
»Von mir gehört?« brummte er. »Von wem?«
Sein aggressiver Ton schien Theosos nicht zu stören.
»Von Ihrem Vorgänger«, erklärte er gelassen. »Von Ihrem Vorgänger. Sein Tod ist uns allen sehr nahegegangen. Er war ein feiner Mann. Jeder hier hat ihn gemocht. Wußten Sie, daß Zamuel hin und wieder an den Gottesdiensten teilgenommen hat, die ich zuweilen hier zelebriere?«
»Nein«, gestand Gral verstört. »Nein, das wußte ich nicht.«
Theosos’ Atem roch nach Whisky, und erst jetzt bemerkte Gral, daß der Prediger leicht schwankte.
»Zamuel war ein verständiger Mensch«, fuhr Theosos im Plauderton fort. »Nicht so ein Ignorant und Zyniker wie die meisten anderen Abgesandten der Konzerne, die sich in der Festung ein Stelldichein geben. Wie dieser Shadrian zum Beispiel. Sie kennen Shadrian?«
»Wilbert Shadrian?« entfuhr es Gral. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. »Der Europa-Manager von General Chemical? Er ist hier?«
»Heute nicht«, schüttelte Theosos den hageren Schädel, »doch ab und zu nimmt er an Egberts Festen teil. Ein Widerling. Ein gottloser Halunke und Hurenbock, der stets einen ganzen Schwarm amoralischer Weiber mitbringt. Shadrian begreift nichts. Nichts. Er ist dumm und bösartig, und er haßt mich. In ganz Spanien werden meine Anhänger verfolgt und eingekerkert.«
Ein düsterer Ausdruck glitt über das Gesicht des Predigers.
»Doch dafür wird er bestraft werden«, prophezeite er. »All seine weltliche Macht wird ihm nicht helfen, wenn der Letzte Tag beginnt und Jahwe mit Feuer und Schwert die Gläubigen von den Ungläubigen trennt. Jahwe ist Brahma, der Weltenherr, der in seiner Verkörperung als Kaiki am Ende des letzten Zeitalters auf der Erde erscheinen und alle Barbaren, Bösewichter und gottlosen Gesellen durch die Macht seines Geistes vernichten wird.«
Theosos leerte mit einem großen Zug sein Whiskyglas.
»Das letzte Weltzeitalter«, dozierte er, »ist das vierte Zeitalter. Am Anfang war Kritayuga, die glückliche, unschuldige Epoche. Danach folgte das kämpferische Tretayuga, von dem es im Epos Ramayana heißt, daß Streit, Krieg, Ungerechtigkeit und Grausamkeit die Welt überzogen und in das Dvaparayuga mündeten, das dritte Zeitalter, bis schließlich am 17. Februar des Jahres 3102 vor Christus Kaliquga anbrach, die letzte Ära, in der alles Gute schlecht wurde und das Böse die Macht ergriff. Erst mit Brahmas Rückkehr können die Menschen wieder Hoffnung schöpfen und Hand in Hand dem Goldenen Zeitalter entgegengehen.«
Gral befeuchtete seine Lippen.
»Und wann«, fragte er, »ist es soweit?«
Theosos zuckte die Achseln.
»Heute, morgen oder erst in zehn Jahren. Wer weiß es? Aber unsere Zeit ist begrenzt. Wir müssen uns sammeln und bereithalten für das Feuergericht, denn wer nicht glaubt, der wird nicht leben. Aber wer nicht lebt, der wird nicht sterben, sondern auf ewig schreckliche Qualen erdulden. Nur wer reinen Herzens und offenen Blickes die uralten, magischen Worte des Papyrus Nu rufen kann: Siehe, ich bringe in meinem Herzen Wahrheit-Gerechtigkeit, denn ausgerissen habe ich das Böse.
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