Die Terranauten TB 04 - Zeitfenster
Müdigkeit, dachte er verdrossen. Gott, ich werde wirklich alt!
Umständlich holte er seine Tablettenschachtel hervor und schluckte eine Aufputschpille.
Auf dem Hauptmonitor schälte sich eine hohe, massive Stahlbetonmauer aus dem Schneetreiben. In regelmäßigen Abständen krönten gedrungene Beobachtungstürme wie Zinnen den Wall, und Gral war sicher, an einigen Stellen die Mündungen großkalibriger Kanonen zu erkennen.
Die Festung.
Sie hatten die Festung des Kanzlers erreicht.
Obwohl das Amphetamin erst in zehn oder zwanzig Minuten seine Wirkung entfalten konnte, war Grals Müdigkeit wie fortgeblasen.
Terjung verlangsamte die Geschwindigkeit des Panzerfahrzeugs, und etwa fünfzig Meter vor dem hohen, breiten Haupttor kam er zum Halt.
Starke Halogenscheinwerfer flammten auf.
Aus dem Funkgerät drang eine von prasselnden statischen Störungen verzerrte Männerstimme.
Die Ozonschicht, dachte Gral. Sie ist dünn, halb zerstört, und die kosmische Strahlung behindert den Funkverkehr immer mehr.
Der Söldner am Funkgerät drehte sich halb herum.
»Sie haben unseren ID-Kode akzeptiert«, teilte er Terjung mit. »Wir können passieren.«
Gral atmete unwillkürlich auf.
Das Bewußtsein, sich im Fadenkreuz schwerer Waffen zu befinden, hatte ihn beunruhigt. Vor allem, weil er wußte, wer den Befehl über den Einsatz dieser Waffen besaß.
Männer wie Jodekain.
Männer, die Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnten.
Für den Kanzler und seine Paladine, sagte sich Gral düster, hat die Zeit ihre Bedeutung verloren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander über und nehmen eine neue Dimension an. Egbert und Jodekain, und wie sie alle heißen mögen … Sie driften fort in eine Region, die nicht mit dieser Welt zu vergleichen ist. In eine kollektive Wahnwelt, in ein Universum, wie es vielleicht auch in den Köpfen der Pangermanen existiert.
Jeder, der tagein, tagaus in dieser Trümmerwüste haust, muß den Kontakt zur Realität verlieren. Es ist eine Frage des Selbsterhaltungstriebes.
Das gepanzerte Fahrzeug setzte sich wieder in Bewegung, kämpfte sich mit dröhnenden Motoren durch den Sturm und das Schneegestöber, und schon begann ein Spalt im massiven Stahl des Tores zu klaffen.
Egbert – und im größeren Maße noch Jodekain – sind nicht in der Lage, den Verlauf der Geschichte zu akzeptieren, setzte Gral seinen Gedankengang fort. Sie hängen noch immer an dem verstaubten Konzept nationalstaatlicher Macht und Souveränität. Sie begreifen nicht, daß diese Macht längst schon an die multinationalen Konzerne übergegangen ist. Daß die alten Ländergrenzen keine Rolle mehr spielen und Namen wie Deutschland, Frankreich oder die Vereinigten Staaten von Amerika nur noch nostalgischen Wert besitzen.
Die Multis – Eurochem, General Chemical, Kaiser’s Energie Company, Alfa Mercedes oder Elektronik A/S – sie sind die neuen Herren der Welt. Selbst das Kriegführen haben sie den einst stolzen, streitbaren Nationen aus der Hand genommen …
Der Panzerwagen rollte durch das Tor. Knirschend, den wütenden Attacken des nicht enden wollenden Blizzards zum Trotz, schlossen sich die Torflügel wieder.
Das Orkangeheul brach ab.
Der Innenhof der Festung, in der nichts mehr an das alte Bundeskanzleramt erinnerte, war überdacht. Hier war es still, warm und trocken.
Der Panzerwagen hing im Schnittpunkt zahlreicher Halogenscheinwerfer und die Filter der externen Beobachtungssysteme rissen die Gestalten uniformierter, bewaffneter Männer und Frauen aus dem Flutlicht.
Nicht ohne Sorge stellte Gral fest, daß ihr Fahrzeug eingekreist war.
Er schluckte und wechselte einen Blick mit Terjung.
Terjungs Gesicht war wie immer eine steinerne Maske. Nur in den Glasaugen – ungewöhnlich genug – schien eine Gemütsregung aufzublitzen.
Spott? Belustigung?
Gral wußte es nicht.
Verdammter Söldner, dachte er wütend.
»Steigen wir aus«, erklärte Gral rauh. »Ich bin schon ganz lahm vom vielen Sitzen.«
Er verließ den Platz und ging gebückt nach hinten, zum Heck des raupenartigen Spezialfahrzeugs, wo sich die Luke befand. Per Knopfdruck entriegelte er sie. Die Luke schwang auf.
Gral blinzelte in der grellen Helligkeit und fluchte unterdrückt. Er schwang sich über den Lukenrand, tastete nach der kurzen Leichtmetalleiter und atmete erleichtert auf, als er festen Betonboden unter den Füßen spürte.
Einige der Scheinwerfer erloschen.
Die anderen verloren an Helligkeit, und das
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