Die Terranauten TB 04 - Zeitfenster
Nicht habe ich bewirkt das Leiden der Menschen, noch meinen Verwandten Zwang und Gewalt angetan. Nicht habe ich das Unrecht an die Stelle des Rechtes gesetzt, noch Verkehr gepflegt mit dem Bösen. Ich habe kein Verbrechen begangen … Nur dem, dem diese Worte leicht und wahr von den Lippen fließen, dem wird Gnade widerfahren.«
Gral sah Vater Theosos an und dachte: Himmel, was für Mist. Was für ein widerliches Gemisch aus hinduistischem Götterglauben, christlicher Nemesis und ägyptischer Mythologie. Es ist furchtbar. Es ist ekelhaft.
»Dann«, sagte Gral heiser, »steht uns ja noch einiges bevor.«
»So ist es«, nickte Theosos. Er starrte in sein Glas. »Sie entschuldigen mich …« murmelte er und wandte sich ab, um einen der Kellner zu suchen.
Gral schüttelte sich.
Alles paßt zueinander, durchfuhr es ihn. Jodekain, der mich für Zamuel und einen Gesandten des amerikanischen Präsidenten hält, obwohl der letzte US-Präsident vor vierzig Jahren regiert hat; Ricarda, die sich für die britische Premierministerin ausgibt; und jetzt dieser närrische Prediger, der sich seine verkorkste, blasphemische Religion mit der Aufrichtigkeit eines notorischen Betrügers zusammenbastelt.
Er blickte zu Egbert hinüber.
Der Kanzler erhob sich schnaufend und winkte. »Der General hat mir gesagt, daß sie wieder da sind, Zamuel«, rief er.
Hoch und fistelnd – ein grotesker Gegensatz zu dem Baß Jodekains – drangen die Worte über seine Wulstlippen. Zögernd näherte sich Gral ihm und der Pangermanen-Führerin. Die stämmige Frau musterte ihn mit unverhohlenem Interesse.
Gral schüttelte dem Kanzler die Hand.
Egberts Händedruck war matt und feucht.
»Sie sind dünn geworden, Zamuel«, stellte Egbert fest. »Und Sie sind gewachsen. Erstaunlich. Ich wachse seit fünfzig Jahren nicht mehr. Wie schaffen Sie das nur?«
»Eine … eine Hormonbehandlung«, erklärte Gral.
»Dieser Amerikaner, tz«, machte der Kanzler bewundernd. »Immer zu neuen Pioniertaten bereit. Werden Sie noch weiter wachsen?«
»Kaum«, erwiderte Gral. Er unterdrückte ein nervöses Kichern. »Alles hat seine Grenzen.«
Egbert rieb nachdenklich sein Dreifachkinn. »Könnten Sie nicht den Präsidenten dazu überreden, uns ein paar Tonnen dieses Hormons zu überlassen? Unter Verbündeten dürfte dies doch kein Problem sein, nicht wahr? Wir brauchen dieses phantastische Wachstums-Hormon wirklich dringend. Einige von meinen Mitarbeitern sind zu klein. Viel zu klein. Fast winzig. Jodekain zum Beispiel – der General ist so klein, daß ich ihn manchmal gar nicht finden kann. Verstehen Sie, warum manche Leute so winzig bleiben, Zamuel? Ist das noch menschlich?«
»Vielleicht«, antwortete Gral vage.
Sarah Sartig stand einen halben Schritt hinter dem Kanzler und lächelte sarkastisch.
»Der arme Präsident Daun«, sagte der Kanzler bedrückt. »Er sollte nach Deutschland kommen. Nach Hamburg. Die Seeluft wird ihm guttun. Was macht sein Magengeschwür?«
»Unverändert.« Gral öffnete seinen Hemdkragen. Er schwitzte. Es gelang ihm kaum, sich auf das hirnlose, irreale Geschwätz des Kanzlers zu konzentrieren. Noch immer ging ihm Vater Theosos’ Bemerkung durch den Kopf. Was trieb der Europa-Manager von General Chemical in der Bonner Festung? Was wollte er von Egbert? Oder ging es Shadrian in Wirklichkeit um Jodekain?
Gral transpirierte heftiger.
Hatte Shadrian von Engramm-3 erfahren – was auch immer das sein mochte? Und versuchte er, Eurochem auszubooten?
Alles war möglich.
Das Gespinst der Rätsel verdichtete sich immer mehr, und nirgends war eine Antwort auf all die Fragen in Sicht.
»Bestellen Sie Präsident Daun meine besten Wünsche«, bat Kanzler Egbert. »Richten Sie ihm aus, daß wir täglich für seine Gesundheit beten. Wir alle – das ganze deutsche Volk.«
Egbert hustete.
»Vielleicht haben wir später Gelegenheit, unser Gespräch fortzusetzen«, sagte er geistesabwesend. »Ich muß fort. Wichtige Regierungsgeschäft … Sie verstehen?«
»Gewiß«, nickte Gral.
Egbert schritt schwerfällig davon.
»Er ist verrückt«, sagte Sarah Sartig abschätzig. »Er ist vollkommen wahnsinnig.« Ein lauernder Ausdruck erschien in ihren harten grauen Augen. »Ich möchte zu gern wissen, warum Sie ihn noch immer finanzieren, Gral.«
Offenbar, dachte Gral mißmutig, weiß hier jeder, wer ich bin. Durch Ricarda Fantrinelli?
»Ich?« fragte er.
»Eurochem«, entgegnete die Führerin der Pangermanischen Bewegung. »Es ist ein offenes
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