Die Terranauten TB 04 - Zeitfenster
herein und enthüllte vage Schatten; in einer Ecke stapelten sich Kisten. Daneben lag ein Lumpenhaufen. Alles war von einer dünnen Eisschicht überzogen.
Wenn ich hier noch lange liege, sagte sich Gral, werde ich erfrieren.
Die barbarische Kälte hatte sich längst in den Pelzkokon geschlichen und machte seine Glieder steif und gefühllos.
Gral wartete und fragte sich, was aus Ricarda und Terjung geworden war. Lebten sie noch? Oder waren sie beim Überfall auf die Panzerraupe getötet worden?
Gral stellte fest, daß er Ricarda vermißte.
Er hatte sie nur als skrupellos, berechnend und machthungrig in Erinnerung gehabt, doch nun machte sie auf ihn einen ganz anderen Eindruck.
Es ist die Verwaltungszentrale, dachte Gral. Der erbarmungslose Kampf im Direktorium, der sie dazu gebracht hat, sich eine Maske zuzulegen. Um all die Jahre zu überleben, hatte sie so werden müssen wie die anderen Direktoren. Doch in Wirklichkeit ist sie wie ich. Zu weich für dieses Geschäft.
Der SD-Direktor verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln. Gleich darauf stöhnte er. In der Kälte waren seine Lippen rissig geworden, und er spürte, wie Blut warm und feucht über sein Kinn rann.
Wieder vernahm er Schritte.
Der Schwarzbart stapfte heran. In seiner Begleitung befand sich ein weiterer Marodeur; ebenso vermummt, bärtig und verwahrlost wie der Schwarze.
Wortlos packten sie Gral, hoben ihn hoch und schleppten ihn durch den dämmrigen, kalten Raum.
Sie stiegen eine knarrende Treppe hinunter, und Gral befürchtete jeden Moment, daß sie ihn fallen ließen und sein erstarrter Körper auf dem Boden in Myriaden Splitter zersprang.
Knisternde, rußende Fackeln spendeten unruhiges Licht.
Decke und Wände der Stiege waren von einem schmutzigen Weiß. Auch hier glitzerten Eiszapfen, aber sie waren kleiner. Es schien wärmer zu werden. Schließlich verschwand das Eis, als ihn die beiden Marodeure durch einen kurzen Korridor und dann eine Treppe hinauf schleppten. Die Stufen waren endlos. Die Wärme wurde intensiver. Die Zahl der Fackeln wuchs.
Unsanft wurde Gral abgesetzt.
Derbe Hände machten sich an den Stricken zu schaffen, die den Pelzkokon umschnürten. Die Wärme gelangte an Grals Glieder, und er lag einfach da und genoß das Gefühl, aufzutauen.
Ein Tritt traf ihn in die Seite.
Er ächzte.
»Auf, auf, Spaßvogel«, brummte der Schwarzbart. »Der König erwartet dich zu einer Audienz. Hoch mit dir!«
Unsicher kam Gral auf die Beine. Er schwankte, und ihm war übel, und Feuer schien in seinen Adern zu fließen, als die Blutzirkulation wieder einsetzte.
Er biß die Zähne zusammen.
Höhnisch betrachtete ihn der Schwarzbart. Erst jetzt bemerkte Gral, daß der Marodeur eine klobige Pistole in der Hand hielt. Die dunkle Mündung deutete auf Grals Magengrube.
Wieder traf ihn ein Tritt, und er stolperte vorwärts.
Der Gang knickte nach zehn Metern ab.
Tageslicht biß in Grals Augen. Er blinzelte.
Der Korridor hinter der Biegung war breit, hoch und hell. Vier große Fenster, allesamt mit Doppelglasscheiben versehen, an denen Eisblumen glitzerten, ließen Sonnenlicht herein.
Der Blizzard war abgeflaut. Der Himmel war von einem strahlenden Blau. Vor Gral breitete sich eine verschneite Landschaft aus. Der Schnee verbarg gnädig die Narben der Ruinenstadt, und in der Ferne funkelte das vereiste Band des Rheins.
Offenbar befand er sich in dem obersten Stockwerk eines der alten Hochhäuser. Bonn lag unter ihm. Ein weißes Häusermeer, still und erstarrt in der Winterkälte, und den Zerfall konnte man nicht einmal mehr erahnen.
Vom grauen Betonblock der Kanzlerfestung war nichts zu sehen.
Offenbar befand sie sich auf der entgegengesetzten Seite.
Gral war erstaunt, wie makellos und unversehrt aus dieser Höhe das Trümmerfeld wirkte, das die alte Bundeshauptstadt war. Fast erwartete er, Autos über das Weiß der Alleen und Straßen rollen zu sehen.
Ein Tritt des Schwarzbartes riß ihn aus seiner Faszination.
»Weiter«, brüllte der Marodeur.
Zögernd wandte sich Gral ab.
Der Boden des Korridors war mit dicken, kostbaren Teppichen ausgelegt. Die Wände waren holzgetäfelt, und die breite Tür am Ende des Ganges bestand zweifellos aus Mahagoni. An der Decke hing ein Kristallüster.
In diesem Gebäude schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Erhabene Ruhe prägte die Atmosphäre, und der Schwarzbart und sein zerlumpter Begleiter waren ein absurder Widerspruch zu der kostbaren, gediegenen Umgebung.
Die Mahagonitür
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