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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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umzudrehen. Der Junge blieb zitternd in der Zelle stehen. Als das Geflatter an der Fensteröffnung ertönte, schrak er zusammen. Eine Taube war gelandet. Sie trug einen kleinen Köcher am Bein. Der Junge blinzelte, dann rannte er hinaus in die Gasse. Pater Xavier war nirgends zu sehen.
    »Bist du in die Hölle zurückgekehrt?«, flüsterte der Junge. Er dachte kurz darüber nach, ob er zurückgehen und die Taube holen sollte. Sie hätte eine Mahlzeit abgegeben. Doch er wusste, dass er nicht die Nerven dazu hatte, nicht mehr seit Pater Xaviers Abschiedslächeln. Er hatte die Münze, oder? Vorsichtig schielte er in seine Handfläche, ob sie sich etwa in Blech verwandelt hätte, aber da lag sie, schimmernd, schwer und großzügig. Er rannte davon und fühlte sich nach ein paar Schritten plötzlich bemüßigt, einen Luftsprung zu machen. Ihm war in den Sinn gekommen, dass er noch lebte.
    Die Taube trat von einem Fuß auf den anderen und ruckte mit dem Kopf hin und her. Niemand kümmerte sich um sie, niemand nahm ihr die Botschaft ab, niemand gab ihr zu fressen. Sie gurrte. Dies war nicht vorgesehen gewesen. Ihre schwarzen Augen glänzten, und ihr Schnabel pickte gegen das Fenstersims, ein Äquivalent eines menschlichen »Hä?«.
    In ihrem Köcher ruhte, ungelesen, die Botschaft von Kardinal de Gaete, dass Pater Hernando vor ein paar Tagen in Wien gesehen worden war und bei Ankunft dieser Nachricht vermutlich bereits in Prag eingetroffen sein dürfte; und dass Pater Xavier, was seinen Bruder in dominico betraf, die Freiheit hatte zu tun, was zum Wohl der Kirche für richtig gehalten werden musste.
    Weder die Taube noch die Absender der Botschaft wussten, dass Pater Xavier sich soeben alle Freiheit der Welt gestattet hatte, zu tun, was immer er für richtig hielt.
    9
    Pavel schlug die Augen auf. Er hatte geträumt, dass er eine Treppe hinunterstieg. Die Treppe sah aus wie die, die zum Versteck der Teufelsbibel unterhalb des Klosters in Braunau führte. Aber alle paar Schritte stand jemand an der Seite und starrte ihn wortlos an. Die Erste war Agnes Wiegant, die junge Frau, die er vor wenigen Stunden in Prag den Flammen überantwortet hatte; ganz unten, fast schon in den Schatten, stand wieder eine Frau. Er kannte ihren Namen nicht und würde ihn nie erfahren. Er hatte geholfen, das Kind auf die Welt zu bringen, das ihr sterbender Körper geboren hatte. So schloss sich der Kreis. Er erinnerte sich, dass er im Traum gedacht hatte: Das war der Anfang? Der Traum verflog, doch die Frage blieb bei ihm wie ein schlechter Geschmack im Mund. Das war der Anfang gewesen? Eine Tat, die wie ein Akt der Barmherzigkeit gewirkt hatte, hatte dazu geführt, dass er jetzt hier am Straßenrand irgendwo östlich von Prag lag und starb? Und zwischen einst und jetzt mehrere Morde begangen hatte? Er schauderte. Mit jedem Schritt unseres Lebens betreten wir einen Pfad, dessen Ende wir nicht absehen können, dachte er.
    Wie lange war er besinnungslos gewesen? Er blinzelte in den Himmel und meinte, im Osten so etwas wie einen leichten Schimmer des Morgengrauens wahrzunehmen. Der Nieselregen flimmerte in seinen Augen. Wie lange …? Lange genug, dass Buh weitergegangen war und ihn im Stich gelassen hatte.
    Er hatte nur Pavels Bitte erfüllt. Mit einem Willensakt, der gewaltig war, überbrückte Pavel den Traum und erinnertesich an die Augenblicke vor seiner Ohmacht. Er hatte Buh gebeten, ihn zurückzulassen. Er hatte mit glasklarer Logik argumentiert. Pavel war nicht in der Lage, den Gewaltmarsch zurück auf sich zu nehmen, und er hielt Buh nur auf. Andererseits musste Abt Martin wissen, dass sie ihre Mission erfüllt hatten.
    Pavel wandte sich stöhnend um und versuchte, in den Wolken im Westen einen Widerschein des Feuers zu sehen, das er entfacht hatte. Er sah nichts, nicht einmal den hellen Fleck, von dem man hätte annehmen können, er sei das Echo, das die Stadtbeleuchtung Prags in den Himmel warf. Wer wusste, wie weit sie gekommen waren in jenen ersten, panikerfüllten Stunden?
    Buh hatte Pavels Wunsch erfüllt. Pavel konnte es ihm nicht übel nehmen. Obwohl er Buh nichts von der umgekippten Laterne erzählt hatte, schien der Riese genau Bescheid zu wissen, welche Hölle sie hinter sich gelassen hatten. Es musste ihm vor Pavel grauen. Pavel hatte ihn gebeten, allein weiterzugehen und ihn, Pavel, hier zum Sterben zurückzulassen, und Buh hatte gehorcht – die erste Bitte seit Tagen, die der Riese mit leichtem Herzen erfüllt haben

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