Die Teufelshure
einer kleinen Kapelle näherten. Ein wenig abseits lagen das Grab ihrer Mutter und das von Tante Margaret. Zuerst hielten sie dort eine kleine Andacht und legten einen Strauß frischer Frühlingsblumen nieder, bevor Fred sie zum Grab ihrer Mutter führte. Mit einem eigenartig distanzierten Gefühl zu jener Frau, die sie niemals richtig kennengelernt hatte, legte Lilian vor dem schön gemeißelten Schiefergrabstein einen Strauß Lilien nieder – die Lieblingsblumen ihrer Mutter, denen sie ihren Namen zu verdanken hatte, wie sie von ihrem Vater wusste.
Lilian blieb mit Fred noch einen Moment stehen und versuchte zu beten. Spontan fiel ihr nichts ein, und so dachte sie nur: Liebe Mama, ich hoffe, du fühlst dich gut, dort wo du bist, und ich hätte da eine Bitte: Hilf mir bei der Aufdeckung unserer Familiengeheimnisse und sorge dafür, dass Alex nie wieder auf Abwege gerät, und bitte beim lieben Gott dafür, dass er eines Tages seinen Nobelpreis erhält und endlich Anerkennung bei unserem Vater findet.
Natürlich war das kein richtiges Gebet, und irgendwie klang es albern, aber Lilian hoffte, ihre Mutter würde es ihr nicht übelnehmen.
»Deine Mutter war eine wundervolle Frau«, bemerkte Fred mit belegter Stimme. »Es war ein schwerer Schlag für deinen Vater und die ganze Familie, dass sie so früh von uns gehen musste.« Ihr Onkel räusperte sich. Lilian trat einen Schritt zurück und reichte ihm ein Taschentuch. Er schnäuzte ziemlich lautstark hinein und wischte sich anschließend ein paar Tränen aus den wasserblauen Augen.
»Haben wir sonst noch Verwandte, die auf der Insel beerdigt sind? Ich meine solche Gräber, die richtig alt sind. Vielleicht aus der Zeit der schottischen-englischen Bürgerkriege.« Lilian sah Fred forschend an, obwohl sie nicht daran glaubte, hier ein Grab zu finden, das älter als zweihundert Jahre war.
»Das älteste noch vorhandene Grab auf der Insel stammt aus dem Jahre 1648. Ich wollte es dir ohnehin zeigen. Es liegt dort drüben im Schatten der verfallenen Kapelle und gehört zu einer Frau, von der man nicht weiß, ob sie tatsächlich zu unseren Vorfahren zählt.«
»Ich möchte das Grab gerne sehen«, sagte Lilian. Fred nickte und stapfte durch die sumpfige Wiese voraus zu einem Hügel, auf dem die mit Efeu bewachsene Ruine der Kapelle von Sankt Munda stand.
Lilian stockte der Atem, als sie die Grabstelle erreichten. Ein uralter verwitterter Schieferstein stand schräg im weichen Untergrund. Irgendjemand hatte ihn mit einem anderen Stein abgestützt, damit er nicht zu Boden fiel und zerbrach.
»Kannst du die Inschrift entziffern?« Lilian sah ihn fragend an. Sie konnte kein Gälisch, das hieß, sie konnte es anscheinend, aber nur, wenn sie sich unter Einfluss dieser schamanischen Droge befand.
»Hier ruht«, las Fred stockend vor, »Madlen MacDonald Cameron – geliebtes Weib von John Cameron of Loch Iol aus Blàr mac Faoltaich. Gestorben im Jahre des Herrn 1648 im Alter von 21 Jahren durch die Hand eines Mörders.«
Lilian lief es kalt den Rücken hinunter.
Nicht zu glauben, dachte sie. Madlen MacDonald hatte also wahrhaftig existiert, und sie hatte einen Ehemann mit dem Namen John Cameron gehabt. Auch die Zeit stimmte exakt.
Fred legte eine theatralische Pause ein, als ob er nicht weiterlesen wollte, doch Lilian gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie auf den Rest der Inschrift nicht verzichten wollte.
»Ihr Tod war deine Auferstehung – Ihre Auferstehung wird dein Tod sein.«
Lilian sah ihren alten Onkel durchdringend an. »Was hat das zu bedeuten?«
»Keine Ahnung! Solche Sprüche findet man auf vielen Grabsteinen aus dieser Zeit.«
»Es hört sich an wie eine Drohung.«
»Der, der es geschrieben hat, wird schon wissen, was er damit bezwecken wollte.«
Aber nicht die Inschrift und die Namen auf dem Grabstein verblüfften Lilian am meisten, sondern ein halbverwelkter Blumenstrauß, der vor dem Grab lag. Es waren dunkelrote Rosen, und als Lilian in Gedanken nachgezählt hatte, kam sie auf fünfzig Stück, die kaum drei Tage hier liegen konnten.
»Interessant«, rutschte es Lilian heraus. »Niemand kennt die Frau, und doch gibt es einen Verehrer?«
»Was weiß ich?«, murmelte Fred und kratzte sich dabei hinter dem Ohr. »Normalerweise kommen hier keine Touristen hin. Und ich wüsste nicht, wer aus dem Dorf so viel Geld für Blumen ausgeben würde. Vielleicht sollten wir bei Netty’s Blumenladen in Kinloch Leven nachfragen. Es ist der einzige Laden
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