Die Teufelssonate
voraus war in irgendeiner Fernsehsendung ausgelost worden, wer anfangen durfte. Offenbar hatte Valdin gewonnen. Denn plötzlich wurde es noch dunkler im Saal, und der Franzose nahm am Flügel Platz.
Er begann mit Funérailles .
Ein dummer Eröffnungszug, fand Notovich. Es war an sich kein schlechtes Stück, aber man mußte es schon interessant machen können, sonst ging man hoffnungslos unter. Technisch war nichts an Valdins Spiel auszusetzen, aber musikalisch war es ein langer Ritt. Notovich merkte, daß seine Aufmerksamkeit abschweifte und daß er Mühe hatte, ein Gähnen zu unterdrücken.
Funérailles .
Dasselbe Stück, das Valdin bei seinem mißglückten Debüt gespielt hatte, vor Jahren. Das Publikum war unruhig, rutschte hin und her und hüstelte viel. Notovich fragte sich, wo all diese Menschen herkamen. Wahrscheinlich waren die meisten gar nicht mit klassischer Musik vertraut.
Notovich schaute noch einmal zu Vivien. Es war, als ob eine unsichtbare Macht seinen Blick immer wieder zu ihr hinzöge. Als ob sie ihn mit diesen Augen rufen würde. Er wollte das Gefühl abschütteln, aber es gelang ihm nicht. Dies war einer der wichtigsten Momente in seinem Leben, und irgend etwas sagte ihm, daß er nun ehrlich zu sich selbst sein müsse. Wer war er tief im Inneren? Wen liebte er am meisten?
Valdin hatte recht: Sennas Geist war tatsächlich in Vivien gefahren. Darum konnte sie Valdin überhaupt nicht lieben, denn ihre Seele war dazu vorherbestimmt, Notovich zu lieben. Vielleicht hatte sie deshalb Valdins Kuß akzeptiert: weil sie begriff, daß ihre Liebe nicht glücklich sein durfte. Notovich war dazu verdammt, ihren Schmerz in die schönste Musik umzusetzen. Er stand hier in dieser riesigen Arena, aber er war nicht allein, denn Senna wachte über ihn. Er würde heute abend nur für sie spielen, um ihre Liebe wieder zum Leben zu erwecken. Dieser Gedanke machte ihn unerwartet ruhig. Er konnte endlich er selbst sein. Und die ganze Welt durfte zuschauen.
Er wartete, bis der angeheizte Applaus verklungen war, setzte sich zurecht und streckte kurz die Arme über den Tasten. Die Wahl des Stücks war lächerlich einfach. Es würde niemanden von seiner fabelhaften Technik überzeugen, aber er würde sie damit berühren. Er legte die Hände auf die Tasten und sah sie an, genau in dem Moment, da sie sich sicher wähnte und ihn ansah. Er schmiedete ihren Blick an seinen und nickte ihr zu, als wollte er sagen: Das ist für dich.
Als er die ersten Noten spielte, nahm er wahr, daß hinter ihm in Drehbüchern geblättert wurde. Bröll hatte zweifellos jeden darauf vorbereitet, daß Notovich sich nie an ein Programm hielt, aber daß er das spielte, erstaunte alle. Er glaubte zu hören, wie der Name von Liszts berühmtester Komposition herumgeflüstert wurde.
Liebestraum Nr. 3 ? Dieses rührselige Stück, das nur noch von verliebten Teenagern und sentimentalen Senioren gespielt wurde? Ein Stück, das eigentlich am besten in Fahrstühlen zur Geltung kam? Es war ihm egal. Er würde es spielen, als ob er der allererste wäre. Als ob die Worte, die Liszt inspiriert hatten, noch geschrieben werden müßten:
O lieb', so lang du lieben kannst!
O lieb', so lang du lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
Es schien, als würde Liszt die Noten selbst vorsingen, voll verhaltener Zärtlichkeit und unterdrücktem Schmerz. Es war vielleicht etwas zu sentimental, aber aufrichtige Emotionen waren nun mal überraschend simpel. Von der ersten Note an hatte er sie gefangen, das wußte er, das fühlte er. Und nach ein paar Takten wußte er, daß auch er seine Tränen nicht würde bezwingen können. Es war, als ob außer ihr niemand im Saal wäre. Es war lange her, daß er ihre Anwesenheit so stark gespürt hatte.
Nach dem letzten Ton war überall Schniefen zu hören, danach war es auffallend lange still. Und dann kam der Applaus. Zögernd zunächst, als ob ein Zauber gebrochen werden müßte. Dann stürmisch. Viele Rufe. Es wurden Blumen geworfen. Er sah, daß Vivien rot geworden war.
Valdin stand auf. Er wartete nicht, bis der Applaus verebbt war, sondern eilte zu seinem Flügel und stimmte die Konzert-Paraphrase über eine Oper von Verdi an. Seine Verärgerung schlug sich sofort in ein paar peinlichen Patzern nieder.
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S eit dem gewagten Liebestraum hatte Notovich das Publikum auf seiner Seite. Sein Auftritt war subtiler und wirkungsvoller als der Valdins. Er spielte zwei
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