Die Teufelssonate
damit er die Stille hören konnte, die Stille, die hier herrschte wie ein vergessener Gott.
Da ertönte die Musik wieder, diese verfluchte Melodie, die ihm schon ewig durch den Kopf spukte, die er aber nie in Noten hatte fassen können. Hinten im Raum befand sich eine lange Fensterreihe. Vor der Glut der Abendsonne erblickte er die Umrisse eines Flügels. Auf dem Instrument brannten Kerzen. Es saß niemand an den Tasten, trotzdem hörte er Musik. Wo kam die her? Aus seinem Kopf? Da sah er sie auf dem schwarzen Flügel liegen. In einem Kranz brennender Kerzen. Ihre Augen waren geschlossen …
»Senna?«
Hinter sich hörte er ein hohes, abwertendes Lachen. Valdin saß in einem Sessel, die Beine entspannt übereinandergeschlagen.
»Senna, Vivien … das ist dir völlig einerlei, was?«
Natürlich, es war Vivien. Es lag an diesem Raum und der Art und Weise, wie sie dort auf dem Flügel ruhte … für einen Moment hatte er gedacht, daß …
»Tröste dich, Notovich. Das ist ein Fehler, den wir alle in der Liebe machen: Wir sehen, was wir sehen wollen. Bei dir nimmt es nur größere Ausmaße an. Eine normale Liebe ist nicht genug für ein Genie wie Mikhael Notovich.«
»Es tut mir leid, Mischa«, sagte Vivien. »Ich wußte nicht, daß er vorhatte …«
Ihre Stimme klang unsicher, als würde sie unter Drogen stehen. Sie fing an zu schluchzen. Notovich bemerkte jetzt erst, daß Viviens Arme in unnatürlicher Haltung auf ihrem Rücken hingen.
»Mach sie los! Mach ihre Hände los, verdammt.«
Er wollte zu ihr, doch Valdin schoß auf ihn zu und stieß ihn zur Seite. Dann schlug er Vivien ins Gesicht. Sie verlor das Bewußtsein.
»Was hast du ihr gegeben?«
»Ein paar Schlaftabletten. Die wirken kaum noch, aber sie wird vorläufig nirgendwo hingehen. Wir spielen dieses Spiel nun zu Ende, Notovich.«
»Wovon redest du?«
»Du weißt sehr genau, warum du hier bist. Tief im Innern hast du diesen Moment die ganze Zeit herbeigesehnt.«
»Ist das so?«
»Du willst endlich wissen, was hier passiert ist. Denn du bist hier schon einmal gewesen, nicht wahr?«
»Daran erinnere ich mich nicht.«
»Du lügst! Alles ist noch so, wie sie es hinterlassen hat. Schau dich noch mal gut um, hier hast du sie umgebracht.«
Notovich kannte den Flügel nicht. Er war mit den seltsamsten Farben und Formen bemalt. Die wunderlichsten Fische, Blumen und Notenzeichen gingen in ein Muster aus gelbroten Flammen über, die sogar über die Beine liefen, als wollten sie den Boden berühren. Notovich schaute aus den Augenwinkeln zu Vivien. Sie war mit einem Strick am Klavier festgebunden. Wenn er versuchen würde, sie zu befreien, würde Valdin ihn sicher angreifen.
»Sie spielte nie auf diesem Flügel«, erklärte Valdin. »Sie fand ihn einfach schön. Sie hat ihn für ihre Malereien benutzt.«
»Malereien?«
Jetzt erst erblickte er zwei leere Staffeleien hinter dem Instrument, aber Bilder waren nirgends zu finden. Der Raum war mit Schaukelpferden, ausgestopften Tieren und anderen bizarren Gegenständen gefüllt: ein Beistelltisch, der an einer großen hölzernen Silhouette von Marilyn Monroe hing, und ein Schrank mit einem Zigarre rauchenden Indianer darauf.
Dann sah er es.
Er nahm einen Kerzenleuchter und ging zur nächstgelegenen Wand. Dort klaffte ein Lifteingang ohne Türen, doch um das viereckige Loch herum war die ganze Wand in den phantastischsten Farben und Formen bemalt. Notovich mußte die Flamme fast in die Farbe halten, um alles richtig erkennen zu können. Gesichter, in einem beinahe naiven, aber doch überraschend expressiven Stil. Nackte Frauen auf Sofas, umgeben von Dämonen und darunter der Text: Break on through to the other side .
»Das stammt aus einem Titel von The Doors«, sagte Valdin, »Sennas Lieblingsband. Oder wußtest du nicht, daß sie auch manchmal Popmusik hörte?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Hatte ich auch nicht. Sie lebte hier in ihrer eigenen Welt. Wir haben CD s von The Doors und Radiohead gefunden. Dieser Text ist übrigens ein Zitat von William Blake, von dem hatte sie auch ein paar Bücher.«
Notovich blieb bei der Abbildung einer nackten Frau stehen, die ihr Spiegelbild in einem Fenster musterte. Auf den ersten Blick glich ihr keines dieser Porträts, diese runden, schmalen, langen rothaarigen oder kurzen blonden Köpfe. Aber es waren die Augen, der wehmütige, abwesende Blick, der ihn überall anstarrte … Das war Senna, das war ihre Art, sich selbst zu betrachten und zu ergründen.
Weitere Kostenlose Bücher