Die Teufelssonate
nebeneinander geparkter Schrottwagen vorbei, an Bergen von Steinen und Schutt. Die ganze Umgebung wurde offensichtlich dem Erdboden gleichgemacht. Auf seinem Bildschirm waren die ehemaligen Straßennamen noch zu lesen, aber die Straßen selbst waren unter dem Schutt kaum noch erkennbar. Da erhob sich ein gigantisches Gebäude in der Abenddämmerung.
Sie haben Ihr Ziel erreicht .
Das kolossale Ungetüm kam ihm bekannt vor. Es sah aus wie ein altes Kaufhaus. Notovich schätzte, daß es bestimmt hundert Jahre alt war, konnte aber den Baustil nicht einordnen. Die oberste Etage war schmaler als der Rest, mit Balustraden und reich verzierten Rahmen. Die langen, schmalen Fenster in den unteren Stockwerken waren eingeschlagen, die Wände mit Graffiti beschmiert. Das Gebäude stand offenbar schon eine Weile leer. Er hatte gelegentlich von einem riesigen leerstehenden Haus gehört, in dem sich Künstler Ateliers eingerichtet hatten – beginnende Bildhauer und Maler, die große Räume für ihre Arbeit benötigten. Solange die Stadt nichts mit dem Gebäude anzufangen wußte, hatte man beide Augen zugedrückt. Und so konnte es sich zum Zentrum einer Undergroundbewegung entwickeln, die in den bekannten galeries d'arts nie wirklich Fuß fassen würde. Und jetzt sollte es abgerissen werden.
Hatte Valdin die Polizei informiert? Würden sie hier auf ihn warten? Er sah nirgends Autos. Es schien ihm auch nicht wahrscheinlich. Valdin wollte keine Gerechtigkeit, er wollte Rache.
Notovich erinnerte sich an diesen Ort. Durch diese Türen hatte er Senna einmal hineingehen sehen. Er war ihr gefolgt, stundenlang, mit der Verbissenheit von einem, der unbedingt bekommen will, was ihm zusteht. Aber das war lange her. Damals standen hier noch Bäume, und die anderen Häuser waren noch nicht dem Erdboden gleichgemacht worden. Es hatte den Anschein, als ob alle in großer Eile aufgebrochen wären und nur dieses Gebäude für Notovich bewahrt worden wäre. War dies Sennas Zufluchtsort, den er nie hatte finden können?
Er stieg aus und schmeckte die staubige Abendluft. Er kannte die Stille, die hier hing, wenn die Nacht in den Tag überging, wenn die Stadt den Atem anhielt. Er empfand eine schaudernde Ehrfurcht vor diesem Gebäude. Es war, als ob die Steine atmeten und ihn prüften, bevor er eintrat. Drinnen waren die Marmorböden teilweise herausgerissen. Er stieg über Balken und Schutt weiter ins Innere. Hier war er schon einmal gewesen. Sein Körper wußte, wo er sich hinwenden mußte. Dem Gefühl nach drang er tiefer in den Raum ein und stieß auf zwei große Lifteingänge. Der matte Stahl an den Türen wölbte sich vor. Notovich fand eine Rolltreppe, die schon seit Jahren außer Betrieb war. Die geriffelten Stufen waren verbogen, aber man konnte noch darauf laufen.
In den ersten beiden Stockwerken wehte der Wind durch die kaputten Fenster, doch weiter oben hing eine muffige Stille. Irgend etwas zog ihn in die oberste Etage. Bei der letzten Rolltreppe fehlten die meisten Stufen.
Was machte er hier eigentlich? Warum mußte er unbedingt dort hinauf? Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Und warum sollte er sich von Valdin in die Falle locken lassen? Der würde Vivien schon nichts antun. Noch konnte Notovich zurück. Er hatte das Duell doch gewonnen? Er konnte sein Leben endlich wieder aufnehmen, endlich tun, wovon er die letzten Jahre geträumt hatte. Unschlüssig stand er in den Trümmern.
Auf einmal glaubte er, Klavierklänge zu hören. Das mußte Einbildung sein. Er drehte sich um und wollte zum Auto zurückgehen, als wieder Musikfetzen herunterschwebten. Sprachlos starrte er durch das Treppenloch nach oben. Diese Melodie kannte er nur allzu gut. Er hatte keine Wahl. Er konnte sein Leben nicht wieder aufnehmen, als wäre nichts geschehen. Nicht solange Valdin mehr über ihn wußte, als er selbst. Er mußte hinauf.
Im Halbdunkel entdeckte er an der Seite ein normales Treppenhaus. Die Stufen lagen voller Schutt, waren aber noch begehbar. Der Staub drang ihm in die Kehle, als er den ersten Schritt machte. Die Musik schien zunächst zu verklingen, wurde dann aber wieder deutlicher. Als er endlich oben war, konnte er jede Note klar unterscheiden. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der Ferne wogte warmgelbes Licht über die Wände, als ob dort ein Kaminfeuer brennen würde. Die Musik verstummte plötzlich. Er fühlte, wie das Blut in seinen Adern hämmerte, und versuchte, seinen Atem zu beruhigen,
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