Die Teufelssonate
gesagt? Das war eine klare Forderung.«
Der künstlerische Direktor trat instinktiv einen Schritt zurück und suchte Unterstützung bei Bröll. Der legte seinen Arm väterlich um Notovich.
»Na komm schon. Niemand kann dir etwas anhaben.«
Die Türen wurden geöffnet. Sie standen in einem Auditorium mit mehr als hundert Plätzen.
Diese waren bis zum letzten Stuhl besetzt.
Notovich blieb auf der Schwelle stehen, im Begriff, wieder zu gehen. Darauf war er nicht vorbereitet.
Im Saal herrschte tiefe, erwartungsvolle Stille. Bröll fragte, ob alles in Ordnung sei. Notovich reagierte nicht. Jemand schob ihn in den Saal, und als ihm klar wurde, daß er nicht ungesehen verschwinden konnte, lief er zögernd den Gang entlang. Alle starrten ihn ungeniert an, als wollten sie sehen, ob die Geschichten stimmten.
In der Totenstille stieg Notovich auf die Bühne. Er überlegte, was von ihm erwartet wurde. Als er den Flügel stehen sah, verspürte er auf einmal dieselbe Panik wie nach seinem Traum von Senna. Er hatte schon so lange keine Musik mehr gehört. Er hatte keine Ahnung, was das in ihm auslösen würde.
Ein älterer Mann, der nach Schweiß und Tabak roch, legte ihm ein Mikrofon an. Der künstlerische Direktor stellte Notovich zwei Studenten vor: einen Jungen mit Flachshaar, der ein wenig dösig dreinschaute, und ein Mädchen mit tiefbraunen Augen, dunklen Locken und einer robusten Lederjacke. Notovich gab ihnen die Hand und fragte, wer anfangen wolle. Nervöses Gekicher.
Notovich bat das Mädchen, am Flügel Platz zu nehmen. Er nahm an, daß sie der Anspannung besser gewachsen sein würde als der verträumte Junge. Er fragte, ob sie etwas vorbereitet habe. Sie stammelte, es sei ihr eine große Ehre, vor ihm spielen zu dürfen, und überreichte ihm Noten von Schumann und Liszt. Sie hatte ihre Schularbeiten gemacht; es waren zwei seiner Lieblingskompositionen. Aber er spürte sofort, daß sich Widerstand in ihm regte. Nicht jetzt, nicht diese Musik. Er legte die Noten resolut beiseite und bat sie, etwas von Mozart zu spielen. Sie blickte ihn erstaunt an.
Die Sonaten von Mozart wirken beim ersten Hören recht einfach, doch Notovich war der Meinung, daß sie oft unterschätzt würden. Denn gerade hinter den kargen Noten Mozarts könne sich kein Pianist verstecken, wußte er: Sie stellen eine enorme musikalische Herausforderung dar, man sieht sofort, was jemand auf dem Kasten hat. Und außerdem brauchte Notovich so nicht mit Musik konfrontiert zu werden, die ihn wirklich berührte.
Das Mädchen nickte bedächtig. Sie wolle die Sonate Nr. 3 KV 281 spielen.
»Geschmack hast du jedenfalls«, sagte Notovich ermutigend. Neben dem Flügel stand ein Ledersessel. Er setzte sich und hörte zu, wie die Studentin sich durch die Sonate kämpfte. Sie hatte einen schönen, leichten Anschlag, mit dem sie den Noten Inhalt zu geben verstand. Aber ihr flüssiges Spiel war ziemlich vorhersehbar. Als sie fertig war, rang sich Notovich mit einiger Mühe ein paar Komplimente ab. Anschließend bat er sie, das Stück einmal halb so schnell vorzutragen.
Wie vermutet, hatte sie nun deutlich größere Schwierigkeiten. Er erklärte ihr etwas über Muskelbeherrschung, und im Saal wurde die Erleichterung langsam spürbar. Was hatten sie eigentlich erwartet? Daß er jemandem mit einem Messer zu Leibe rücken würde oder so?
Jetzt war der Junge an der Reihe. Notovich trug ihm auf, ein Nocturne von Chopin zu spielen. Der Student entschied sich für Opus 62 Nr. 2 . Er hatte einen spritzigen Stil, der leicht ins Ohr ging. Mitten im Stück ließ Notovich ihn einen bestimmten Übergang ein paarmal wiederholen, und zwar jedesmal in einer anderen Interpretation. Schon beim dritten Versuch stellte sich bei dem jungen Pianisten Frustration ein. Die musikalischen Klischees waren ihm jahrelang von einem Heer gutmeinender Musikdozenten fachmännisch eingetrichtert worden. Notovich forderte ihn auf, notfalls mit den idiotischsten Einfällen zu kommen, aber es gelang nicht. Als der Student weiter herumstümperte, wurde Notovich unruhig.
»Nein, nein! Nicht so!«
Er schob den Jungen, ohne nachzudenken, von der Bank und fing an, die Passage selbst zu spielen. Das Publikum hielt den Atem an, während Notovich sofort völlig in seiner Interpretation aufging. Die Leichtigkeit, mit der ihm die Töne aus den Fingern perlten, erstaunte ihn erst im nachhinein. In dem Moment selbst spürte er nur, wie die Musik einen Kokon der Ruhe und Intimität um ihn errichtete,
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