Die Teufelssonate
Vierteln mit Mietshäusern kamen sie nun in leerere Straßen, wo ältere Bürogebäude in einer verlassenen Stille ihres Schicksals harrten. Hier war zum ersten Mal auch der Wind zu spüren. Notovich würde den Weg nie allein wieder zurückfinden. Sein Mund war ausgetrocknet, und seine Füße waren geschwollen. Weit und breit war keine Metrostation zu entdecken. Er suchte in seiner Tasche nach Geld für ein Taxi. Sollte er Senna einholen und ihr anbieten, mit ihm mitzufahren? Aber wie sollte er ihr erklären, daß er ihr bis hierher gefolgt war, bis in diese vergessene Gegend von Paris? Er hatte nur noch ein paar Euro. Gerade genug, um sich an der Metro absetzen zu lassen und dann zu hoffen, daß er ohne Fahrschein nach Hause kam.
Als er hochschaute, war Senna nicht mehr zu sehen. Er rannte mit brennenden Füßen in eine Seitenstraße, doch es war eine Sackgasse. Wenn er sich nicht beeilte, würde er sie nicht wiederfinden. An der Stelle, wo sie seinen Blicken entschwunden war, konnte er sich nicht entscheiden, in welche Straße er einbiegen sollte. Er begann, auf gut Glück zu laufen, aber seine Füße waren nur noch zu einem zuckelnden Trab imstande. Er hatte sie verloren.
Es schien endlos zu dauern, ehe Senna zurückkehrte, einfach so, als ob sie bloß mal eine Flasche Milch geholt hätte. Er stellte keine Forderungen. Er entschuldigte sich nur. Es tat ihm leid, daß er so ungestüm gewesen war, und er gab ihr auf vielerlei Weise zu verstehen, daß er ihr die Freiheit lassen würde. Sie schlief ab und zu bei ihm, manchmal eine Stunde, manchmal länger, aber nie eine ganze Nacht. Er suchte keine körperliche Annäherung mehr. Er hoffte, daß sie eines Tages von selbst das Verlangen danach verspüren würde, wenn er ihr die Freiheit ließ. Er bat sie nie, bei ihm zu schlafen, und wenn sie ging, fragte er nie, wann sie wiederkomme.
Während er übte, las sie alles, was in seinem Bücherschrank über Franz Liszt und Marie d'Agoult zu finden war. Wenn er nach Hause kam, lasen sie sich gegenseitig aus den Liebesbriefen vor, die Liszt und d'Agoult sich manchmal auf Deutsch geschrieben hatten, der Geheimsprache ihrer Liebe.
»Marie! Marie!
Ach lassen Sie mich diesen Namen hundertmal, tausendmal wiederholen; jetzt sind es drei Tage, daß er in mir lebt, mich bedrängt und in mir brennt. Ich schreibe Ihnen nicht, nein, ich bin bei Ihnen. Ich sehe Sie, ich höre Sie … Die Ewigkeit in Ihren Armen … Himmel, Hölle, alles, alles in Ihnen und abermals in Ihnen … Ach, lassen Sie mich verrückt, wahnsinnig sein … Die kleinliche, vernünftige, enge Wirklichkeit genügt mir nicht mehr, wir müssen unser ganzes Leben, unsere ganze Liebe, unser ganzes Unglück erleben!
Franz«
Notovich las »Mischa«, wo Franz stand. Und Senna las einen der Briefe von Marie vor:
»Es schien mir, als hätten wir uns noch nicht getrennt. Dein Blick leuchtete noch zauberhaft am Himmel. Dein Atem war noch auf meinen Lippen und meinen Lidern; die Schläge Deines Herzens hallten ständig in meinem wider …
Marie«
Sonntags grasten sie die Märkte in den Vororten ab, auf der Suche nach Büchern, in denen etwas über den Komponisten stand. Sie stellte für Notovich eine ganze Liste von Büchern zusammen, die Liszt selbst einst gelesen haben mußte: von Goethes Faust und Dantes Göttlicher Komödie bis zu obskuren Werken über Philosophie und Religion. Als sie ihre Angst, mit ihm gesehen zu werden, überwunden zu haben schien, schleifte sie ihn mit zu Adressen, wo Liszt gewohnt hatte, zu Theatern, wo er aufgetreten war, und in Museen, wo Gemälde hingen, die ihn inspiriert hatten. Sie besorgte Prospekte über Orte, die Liszt und Marie im Ausland besucht hatten, und plante sogar eine ausführliche Reise dorthin.
Je mehr Notovich sich in Liszt vertiefte, desto größer wurde seine Faszination für ihn. Eine neue Gedankenwelt eröffnete sich ihm, eine Welt, in der er sich zu Hause fühlte. Es war, als käme Liszts Musik aus den Tiefen von Notovichs eigener Seele; durch Liszt erhielt er Blicke auf sein Inneres, die ihm bisher verborgen geblieben waren.
Es faszinierte ihn auch, wie Liszt sich zum größten Klaviervirtuosen aller Zeiten entwickelt hatte. Er war ein verträumter Junge aus einem rückständigen Dorf an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich gewesen. Ein kränkliches Kind, das ständig am Rand des Todes balancierte. Seine erste Erinnerung war ein Sarg, den seine Eltern für ihn gebaut hatten. Zeit seines
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