Die Teufelssonate
Lebens würde er von Tod und Unglück verfolgt werden, und jedesmal flüchtete er in die Musik. Weil es in dem Dorf keinen guten Lehrer gab, brachte er sich das Klavierspielen selbst bei. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er die Finger auf die Tasten setzen mußte, aber als sein Vater ihn zu dem großen Pädagogen Czerny brachte, war dieser vom Spiel des Jungen tief berührt. Die Eltern investierten alles, was sie hatten, um ihrem Sohn den Unterricht im fernen Wien zu ermöglichen. Czerny erachtete es als seine Pflicht, dem Wunderkind zu helfen, und verlangte kein Geld für seine Stunden. Er machte sich geduldig und systematisch mit ihm an die Arbeit. Unter seiner Führung wuchs Liszt zu einem jungen Virtuosen heran und landete in Paris, wo er seine ersten Triumphe feierte. Im Herzen sollte er sein Leben lang Autodidakt bleiben. Dies war, laut Notovich, der Grund dafür, daß Liszt in der Lage war, Musik zu erschaffen, die so verblüffend originell war und sich keinerlei musikalischem Gesetz zu beugen schien.
Allmählich drang Notovich in die tieferen Schichten von Liszts Kompositionen ein. Ab und zu nahm er Senna mit zu dem braunen Flügel und spielte für sie. Sie wählten die Stunden aus, in denen keine Kunden im Laden sein würden. Wenn der alte Verkäufer sich in sein Kämmerchen zurückzog, legte sich Senna auf den Flügel, und dann spielte Notovich für sie. Für ihn war sie die Musik. Sie gab seinem Künstlertum Richtung und hauchte seinem Verlangen zu spielen neues Leben ein. Als sie eines Abends nach Hause gingen, sagte Senna, es sei an der Zeit, daß Notovich wieder auftrete.
12
V aldin weigerte sich, in den Medien zu erscheinen, und gerade dadurch wurde er mit einem Schlag zum Medienstar. Einen Tag nach dem geheimnisvollen Konzert schwirrte das Land vor Gerüchten. Aus Mangel an verläßlichen Informationen phantasierten alle drauflos. Schon bald wurde Valdin zur größten Sensation der vergangenen fünfzig Jahre hochstilisiert, ein unverstandenes Genie, ein schamloser Scharlatan, ein Schürzenjäger, der zahllose Frauen ihrem Schicksal überlassen habe, eine tragische Figur mit einem fatalen Herzfehler, ein Kinderfänger und Autist.
Seine musikalischen Qualitäten standen außer Frage, obwohl noch kein einziger Kritiker ihn hatte spielen hören. Die hielten sich daher auch bedeckt und beschränkten ihren Kommentar auf die »Zeiterscheinung«, die Valdin hieß. Es war unwahrscheinlich, daß Valdin so kurz nach seinem erfolgreichen Debüt noch ein Konzert geben würde, aber gerade das machte es wieder wahrscheinlich, denn, wie ein Blogger schrieb: »Bei Männern wie Valdin weiß man nie.«
Die Glücklichen, die das erste Konzert miterlebt hatten, wurden gegen ihren Willen vor die Kameras gezerrt. Sie erzählten, daß Valdin nicht nur Liszt spiele, sondern ihm auch ähnlich sehe. Das führte nun wieder zu Spekulationen über das mystische Band zwischen Pianist und Komponist, das Zeit und Raum überstieg. Liszts Kompositionen seien die Offenbarungen, und Valdin sei ihr Prophet. Ein Augenzeuge behauptete, der Pianist habe während des Spiels »entseelt« gewirkt, als ob er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe.
Notovich war sich des Sturms, der durch die Stadt raste, kaum bewußt. Als Bröll ihn anrief, tupfte er sich gerade das Blut von seiner geschwollenen Lippe. Der Agent erkundigte sich, ob er gut nach Hause gekommen sei, aber Notovich erzählte ihm nichts von seiner Begegnung mit den Bauarbeitern. Er würde sich heute abend Essen vom Thailänder bestellen und mit einem Buch ins Bett kriechen. Er habe Hunger und eine Menge Schlaf nachzuholen. Als Bröll auflegte, rief Notovich Nicole an, doch die nahm nicht ab. Er sprach ihr auf den Anrufbeantworter, um zu erklären, warum er nicht zu seinem Termin erschienen war.
Gegen sieben Uhr abends klingelte es. Als er öffnete, war weit und breit kein Thai-Lieferant zu entdecken. Statt dessen lag ein Umschlag auf der Fußmatte. Er sah genauso aus wie der vorige, aber die Mitteilung war diesmal viel kürzer:
Valdin
Villa Beukenhorst
Heute abend, 20.00 Uhr
Er starrte auf das Papier. Die Vorstellung, einem Konzert von Valdin beizuwohnen, erfüllte ihn mit einem an Angst grenzenden Widerwillen. Doch es war vielleicht die einzige Möglichkeit, sie noch einmal zu sehen. Es war ihm egal, ob sie sich Vivien oder Senna nannte. Er mußte sie noch einmal sprechen. Bröll würde wütend sein, wenn er ohne ihn hinginge, aber Notovich rief sich lieber
Weitere Kostenlose Bücher