Die Teufelssonate
gründlich die Hände und Unterarme.
Er öffnete den Deckel und legte seine Fingerspitzen auf die Tasten. Hier würde ihn niemand hören, was konnte es also schaden, ein Stück von Bach oder Chopin zu spielen? Viele Werke Chopins gefielen ihm besser als die Liszts. Warum hatte er sich damals nur diese unsinnige Beschränkung auferlegt? Er kannte die Antwort natürlich. Sein Schicksal war mit dem unergründlichen Komponisten verbunden. Liszt holte das Schlechteste und das Beste aus ihm hervor.
Er wollte keine Angst vor einem Komponisten haben, der schon seit mehr als hundert Jahren tot war. Es waren, verdammt noch mal, nur Noten, und an Noten starb man nicht. Also begann er mit dem Liebestraum Nr. 3 , dem bekanntesten und beliebtesten Stück von Liszt. Keine dunklen Leidenschaften, die reine Lieblichkeit.
Mechanisch arbeitete er sich durch den ersten Teil. Als er diese Hürde genommen hatte, versuchte er, etwas mehr Gefühl in sein Spiel zu legen. Das schien ganz gut zu gelingen, und er bekam allmählich fast Spaß daran. Aber es war, als ob die Tür zu seinem Herzen sich nur einen Spaltbreit öffnen ließe. Er fing an, sein Spiel zu forcieren, dadurch klang es eher wie eine Persiflage auf Liszt. Schon bald wollten seine Hände nicht mehr. Und das war nur dieser blöde Liebestraum . Vielleicht war er doch schlimmer dran, als er glaubte.
Nicht, daß es etwas ausmachte. Er hatte nicht vor, wieder aufzutreten. Er durfte nicht einmal daran denken. Aber wenn er Valdin absagte, wollte er es aus freien Stücken tun und nicht, weil er der Konfrontation nicht gewachsen wäre. Er wollte Valdin ignorieren, mit der Geringschätzigkeit von jemandem, der sich nicht mit Mittelmaß abzugeben braucht. Nur ein einziger Grund fiel ihm ein, warum sein Spiel nicht mehr die Tiefe von früher hatte. Die Tabletten stumpften ihn ab. Selbst jetzt noch, nachdem er sie abgesetzt hatte.
Am nächsten Morgen rief Linda an, um zu überprüfen, ob er wach war. Um zehn Uhr mußte er unterrichten. Notovich hatte keine Mühe, munter zu klingen, denn er starrte schon seit Stunden an die Decke. Er hatte wieder von Senna geträumt und wagte nicht mehr zu schlafen.
Das Konservatorium hatte einen Raum mit einem Flügel für ihn reserviert. Natasja, die Studentin, die eine Woche zuvor Mozart für ihn gespielt hatte, war bereits da. Sie hatte die Beine aufs Fensterbrett gelegt und schlürfte Trinkjoghurt. Als er hereinkam, erschrak sie; sie hatte offenbar nicht erwartet, daß er tatsächlich auftauchen würde. Sie warf ihre Lederjacke in eine Ecke und streckte sich, so daß ihre Brüste für einen Moment zu sehen waren. Unter den Achseln hatte sie kleine Schweißflecke, und ein paar dunkle Büschel lugten unter ihren Ärmeln hervor. Achselhaare hatten ihn immer erregt. Seiner Meinung nach war das auch ihre Funktion: Gerüche festzuhalten, mit denen das andere Geschlecht betört werden sollte.
Sie lächelte, als sie sah, daß er etwas abwesend war. Ihr Lächeln hatte etwas Trauriges. Sie fragte, ob er auch Joghurt wolle. Ohne Publikum schien sie sich freier zu bewegen, sicherer. Dadurch war eine subtile Verschiebung im Gleichgewicht zwischen ihnen spürbar, denn Notovich fühlte sich mit ihr allein gerade weniger wohl (vor allem, da er nun ihr Achselhaar gesehen hatte).
Die Kreisleriana von Schumann hatte er früher selbst gern bei Wettbewerben zu Gehör gebracht. Er ließ sie den zweiten Teil durchspielen, damit sie ihre Nervosität ein wenig verlor. Danach würden sie sich an die Arbeit machen. Sie fing an. Er versuchte, sich von der Musik treiben zu lassen, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab zu Valdin.
Als er aus seiner Grübelei erwachte, sah sie ihn mit einem mitleidigen Lächeln an.
»War es so schlecht?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe heute nacht nur nicht so gut geschlafen.«
»Warum nimmst du die Herausforderung nicht an?«
»Was?«
»Ich habe es in der Zeitung gelesen. Du spielst diesen Valdin locker unter den Tisch. Ich habe dich spielen hören. Ich habe alle deine CD s.«
»Wirklich?«
»Illegal runtergeladen. Hab ich schnell gemacht, als wir hörten, daß du unterrichten würdest. Du hast also nichts dran verdient«, grinste sie.
Er lächelte ebenfalls. Ihr Humor und ihre Offenheit gefielen ihm.
»Ich habe keine Sehnsucht nach Auftritten«, sagte er. »Dieser Notovich will ich nicht mehr sein. Komm, spiel weiter.«
Sie spielte das Stück noch einmal, und jetzt gelang es ihm mehr oder weniger, mit den Gedanken
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