Die Teufelssonate
dabeizubleiben. Er gab ihr ein paar Hinweise, und in einer Dreiviertelstunde arbeiteten sie sich gemeinsam durch die erste Seite. Sie nahm seine Instruktionen gut auf, aber er war nicht leicht zufriedenzustellen. Danach hatte er das Bedürfnis nach etwas anderem. Er ließ sie noch eine Komposition vortragen, mit der sie sich gerade beschäftigte. Es war eine Etüde von Chopin. Die spielte sie lockerer, mit mehr Freude. An ihrer Technik gab es nichts auszusetzen, so daß er sich auf die Musik selbst konzentrieren konnte.
»Was sagst du zu meinem Spiel?«
»Prima. Wenn wir noch ein paar Wochen an diesem Stück arbeiten, dann …«
»Ich meine: Findest du, daß ich Talent habe?«
»Natürlich, sonst würdest du nicht hier sitzen.«
Damit gab sie sich nicht zufrieden.
»Ich übe schon, seit ich laufen kann«, sagte sie. »Tagaus, tagein. Ich habe immer alles dafür getan. Ich habe mir die Finger wundgeübt, Partys abgesagt, wenn ich vorspielen mußte, nie zu lange Ferien gemacht, um meine Geschmeidigkeit nicht zu verlieren … Und dann höre ich dich die Sonate in h-moll spielen und denke … was weiß ich. Ich möchte einfach, daß mir mal jemand direkt ins Gesicht sagt, ob ich es kann, wirklich kann.«
Derselbe offene Blick, doch nun verletzlich.
»Ich glaube nicht an Talent«, setzte er an. »Ich glaube mehr an Charakter, und das sage ich nicht, um mich vor deiner Frage zu drücken …«
Sie fiel nicht darauf herein und bestand auf einem Urteil. Sie wollte wissen, ob sie das Zeug hatte, die Spitze zu erreichen.
»Natasja, wenn du mir diese Frage stellen mußt, dann weißt du die Antwort selbst schon. Das schaffst du nur, wenn es dir völlig egal ist, was ich von deinem Talent halte. Das ist wahres Talent.«
»Du weichst der Frage aus.«
Hartnäckige Tante. Sie hatte alle Fluchtwege versperrt. Sie verdiente eine ehrliche Antwort.
»Du spielst ziemlich gut, überdurchschnittlich gut sogar für jemanden auf dem Konservatorium. Aber was ist ein echter Spitzenmusiker? Es ist ein Begriff, der …«
Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, da fing sie zu seiner großen Verwunderung an zu weinen. Zwischen zwei Schluchzern entschuldigte sie sich immer wieder. Er hielt es für das beste, sie einen Moment allein zu lassen. Doch als er aufstand, dachte sie, daß er sie trösten wolle. Sie lehnte sich an ihn. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und schien sich zu beruhigen. So standen sie einige Minuten (Musiker unter sich, versuchte er sich noch einzureden). Sie seufzte ein paarmal tief, und er streichelte ihre Wangen. Es war als väterliche Geste gemeint, aber sie faßte es nicht so auf. Sie schaute ihn mit ihren rot umränderten Augen an und küßte ihn plötzlich.
»Natasja, was machst du?«
»Ich dachte, daß …«
»Ich bin fast doppelt so alt wie du.«
»Das ist nun aber übertrieben«, sagte sie.
»Ich bin wesentlich älter.«
»Okay, ich wollte nicht … Ich meine … Ich dachte, du empfindest dasselbe …«
Er wollte sie von sich wegschieben, doch ihm fehlte die Willenskraft. Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Er wußte nicht, was er machen sollte. Sie trösten? Oder wegrennen?
Irgendwie hatte sie schon recht. Vom ersten Moment an hatte es zwischen ihnen geknistert. Er hatte zuerst gedacht, er bilde es sich nur ein, aber offenbar hatte sie dasselbe gefühlt. Er schämte sich, daß er diese Atmosphäre nicht sofort unterdrückt hatte, vor allem in Anbetracht der Tatsache, daß die Polizei wieder hinter ihm her war und er sich redlich mühte, sich ein normales Leben aufzubauen. Sie war Studentin. Erwachsen zwar, aber zu jung für ihn. So ein schönes Mädchen verdiente er überhaupt nicht. Er hatte seine Chance auf Glück gehabt, und die hatte er verspielt.
Doch plötzlich ging ihm ein seltsamer Gedanke durch den Kopf: Warum eigentlich nicht? Sein Leben lang hatte er getan, was das beste für seine Kunst war. Aber wohin hatten ihn diese Disziplin und Selbstaufopferung geführt? Konnte man erbärmlicher dran sein als er? Natasjas Geschichte kam ihm bekannt vor. Er hatte sich nie erlaubt, Dinge zu genießen, die für andere Leute ganz normal waren. Nicht zuviel trinken, früh ins Bett und jeden Tag üben, üben und nochmals üben. Während die anderen auf Partys gingen oder eine Talentshow im Fernsehen sahen. Warum war eine Sonate von Schumann eigentlich besser als ein Quiz? Ein Pianist unterhielt bedeutend weniger Menschen als ein Fernsehmoderator.
Und was hatte er nun davon? Er
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